HAMBURG. Für Alfred Gislason ist das Gefühl nicht ganz neu – aber immer noch ein wenig ungewohnt. Denn der Handball-Bundestrainer kennt es auch erst seit etwas mehr als einem Jahr. »Kein Spieler hat uns abgesagt, sondern wir mussten einigen Spielern absagen«, beschreibt der Isländer den wegweisenden Wandel vor der nahenden WM in Dänemark, Norwegen und Kroatien.
Die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) steht bei den Spielern mittlerweile wieder hoch im Kurs. Der Stellenwert ist gestiegen, die Relevanz ebenfalls. Weshalb sich der 65-Jährige sogar sicher ist, dass er es »in den nächsten Jahren nicht erleben wird«, dass irgendein Profi von sich aus auf ein Turnier freiwillig verzichtet. »Das würde mich wundern«, sagt Gislason im Brustton der Überzeugung.
Die Qual der Wahl
Längst muss der Bundestrainer nicht mehr leidenschaftlich appellieren, dass sich die besten deutschen Handballer trotz der zweifelsohne großen Belastung doch bitte fürs Nationalteam zur Verfügung stellen. Im Gegenteil: Die Vorzeichen haben sich komplett gedreht. Gislason agiert mittlerweile aus einer Position der Stärke, er muss weder bitten noch betteln, sondern hat die Qual der Wahl.
Wenn man so will, ist das DHB-Team zum neuen Sehnsuchtsort des deutschen Handballs gereift. Alle wollen dabei sein. Niemand möchte zuschauen. Was mehrere Gründe hat. Denn die Erfolgswahrscheinlichkeit ist momentan so groß wie schon lange nicht mehr und die Aussicht auf gleich mehrere Heim-Turniere (WM 2027 als alleiniger Ausrichter; WM 2029 und EM 2032 gemeinsam mit Frankreich) verlockend.
Nicht zuletzt scheint außerdem die Liebe zum Land sowie die damit verbundene Bereitschaft, die Strapazen auf sich zu nehmen und noch dazu etwas für den Handball an sich zu tun, wieder deutlich ausgeprägter zu sein. »Eine Einladung zur Nationalmannschaft lehnt man nur ab, wenn man verletzt ist oder eine private Situation keine andere Lösung zulässt. Solange mein Körper das mitmacht und meine Frau ihr Okay gibt, will ich dabei sein«, unterstreicht Kapitän Johannes Golla im Gespräch mit dieser Redaktion die Bedeutung des DHB-Teams und versichert glaubhaft, dass es für ihn eine »riesengroße Ehre« sei, »für Deutschland zu spielen.«
Golla ist natürlich auch dabei, wenn Bundestrainer Gislason ab Freitag sein Team in Hamburg zur Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft versammelt. Im dänischen Herning bekommt es der Olympia-Zweite in der WM-Vorrunde mit Polen (15. Januar, 20.30 Uhr), der Schweiz (17. Januar, 20.30 Uhr) und Tschechien (19. Januar, 18 Uhr) zu tun. Zuvor stehen in Flensburg (9. Januar, 18.30 Uhr) und Hamburg (11. Januar, 16.20 Uhr) noch zwei Länderspiele gegen Brasilien an.
Heymann/Kohlbacher verletzt
19 Profis hat Gislason zum Trainingsauftakt eingeladen. Kurzfristig mussten Sebastian Heymann und Jannik Kohlbacher (beide Rhein-Neckar Löwen) absagen. Jeweils wegen einer Verletzung. Für das Duo wurden Tim Zechel und Lukas Stutzke nachnominiert.
Ansonsten steht Gislason der nominell stärkste Kader zur Verfügung, was in der nun bald fünfjährigen Amtszeit des Isländers beileibe nicht immer so war. Im Gegenteil: Es gab Turniere, da handelte sich der Bundestrainer im Vorfeld reihenweise – und zwar nicht verletzungsbedingte – Absagen von gestandenen Nationalspielern ein. Was Gislason frustrierte. Und zu einer Grundsatzdebatte über die Attraktivität der Nationalmannschaft führte, an der sich die Legenden der vorherigen DHB-Generationen sehr rege beteiligten.
Stefan Kretzschmar stellte beispielsweise im Interview mit dieser Redaktion die Mentalitätsfrage. »Die Skandinavier treten nach einer Einladung die Reise zur Nationalmannschaft mit einem Lächeln und mit Freude an. Für diese Jungs gibt es nichts Größeres.« Bei den Deutschen hätte er hingegen das Gefühl, »dass da manch einer eine Nationalmannschaftseinladung umgehend mit dem Thema Belastung assoziiert«.
Es verwundert daher auch nicht, dass Gislason manch eine Absage nur schwer akzeptieren konnte. Wenn überhaupt. Doch mit ein wenig Abstand dürfte der 65-Jährige vermutlich sogar ganz froh über diese Entwicklung, über diese Fügung des Schicksals sein. Denn er wurde mehr oder weniger zu seinem Glück gezwungen und musste eine Mannschaft mit aufstrebenden Talenten aufbauen, deren Höhepunkt bei der Heim-WM 2027 erwartet wird.
Nun lief aber alles besser als gedacht und diese Ansammlung an Hochbegabten ging schon 2024 mit dem EM-Halbfinale und Olympia-Silber in Vorleistung. Geführt von jungen Leistungsträgern wie Julian Köster, Juri Knorr (beide 24 Jahre) und Renars Uscins (22), gestützt von teils noch jüngeren Herausforderern wie David Späth (22) oder Justus Fischer (21), die Druck auf etablierte Stammkräfte machen und ihren Wert vereinzelt bereits zeigten. So wie Torwart Späth im Olympia-Viertelfinale beim Sensationssieg über Frankreich.
»Wir haben zuletzt einen gewissen Kern zusammenhalten können und mussten nicht immer alles umbauen. Deswegen ist die Mannschaft besser und eingespielter geworden«, erklärt Gislason die Leistungsexplosion. Aus dem Olympia-Kader fehlt jetzt bei der Weltmeisterschaft neben den verletzten Kohlbacher, Heymann und Tim Hornke lediglich Kai Häfner, der seinen Rücktritt aus dem Nationalteam erklärte. (GEA)