HERZOGENAURACH. »Welcome Home« stand auf der großen Begrüßungstafel, als Julian Nagelsmann auf dem weitläufigen Gelände des Noch-Ausrüsters Adidas in Herzogenaurach sich wieder im Zwiespalt wähnte. Erneut beschlich den Bundestrainer am Montag ja das Gefühl, dass vor acht Wochen bei der Heim-EM für die deutsche Nationalmannschaft im Viertelfinale gegen Spanien alles ein bisschen abrupt endete. Im Gegenzug ist der 37-Jährige auch heilfroh, dass die ersten Nations-League-Paarungen gegen Ungarn in Düsseldorf (Samstag, 20.45 Uhr/ZDF) und die Niederlande in Amsterdam (10. September, 20.45 Uhr/RTL) anstehen, mit denen eine neue Zeitrechnung eingeläutet wird. Sichtbar daran, dass Joshua Kimmich nun den neuen Kapitän gibt.
»Josh war einer der drei Kapitäne bei der EM, daher ist es logisch, dass er Kandidat Nummer eins war«, erklärte Nagelsmann, der schon in seiner Zeit beim FC Bayern einen guten Draht zum Vollprofi des FC Bayern hatte. »Er ist ein Vorbild für die gesamte Gruppe, der immer Vollgas gibt, nie müde wird, immer trainieren will, manchmal zu viel.« Für ihn ist der »Kapitän der Abgesandte der Mannschaft«. Das Stückchen Stoff trug Kimmich übrigens erstmals beim Confed-Cup-Halbfinale 2017 gegen Mexiko (4:1). Allerdings wird der 29-Jährige nicht ins Zentrum des Geschehens versetzt, sondern bei der DFB-Auswahl – im Gegensatz zum Verein – weiterhin Rechtsverteidiger bleiben. Einfacher Grund: »Bei der EM hat er in allen Werten eine Benchmark gelegt.« Eine solche Qualität möchte Nagelsmann auf dieser Position nicht missen. Zuletzt hatte Ilkay Gündogan die Binde getragen, zuvor Manuel Neuer den Job ausgeübt, doch beide haben wie Toni Kroos und Thomas Müller einen Schlussstrich gezogen. Nagelsmann: »Es sind vier bedeutende Spieler zurückgetreten, die eine große Historie beim DFB und eine tragende Rolle bei der EM hatten.«
Was Kimmich auszeichnet
Dem Kapitänsamt wird im deutschen Fußball traditionell eine große Bedeutung zugeschrieben, zumal insbesondere die WM-Titel eng mit der Geschichte ihrer Spielführer – von Fritz Walter über Franz Beckenbauer und Lothar Matthäus bis hin zu Philipp Lahm – verknüpft sind. Zu Kimmichs Stellvertretern wurden Antonio Rüdiger und Kai Havertz ernannt.
Bei Kimmichs Ernennung auf dem Homeground durchs Trainerteam soll der Kader kräftig Applaus geklatscht haben. Der »ehrliche, offene, direkte Charakter« (Nagelsmann) zeichnet sich dadurch aus, dass er auch mal unbequeme Meinungen vertritt: »Bei Josh kriegt man in Gesprächen nicht immer ein Ja und Amen.«
Auch bei den damals als alternativlos geltenden Corona-Impfungen hatte sich dieser Fußballer ja quer gestellt – und viel Schelte eingesteckt, die rückblickend überzogen war. Ehrgeiz, Disziplin und Identifikation sind weitere Merkmale eines 91-fachen Nationalspielers, der gar nicht immer so verbissen sei wie viele glauben, verriet Nagelsmann: »Er hat neben dem Platz oft ein bisschen Klamauk im Kopf.« Das gefalle ihm beim Familienmenschen Kimmich jedenfalls ganz gut. Nur gehe die Sympathie nicht so weit, dass er mit seinem neuen Anführer zuletzt Weihnachten verbracht habe, wie er fälschlicherweise gelesen habe, stellte der Bundestrainer klar.
Zu den Führungskräften steigt auch Marc-André ter Stegen auf, der genau wie Jonathan Tag, Pascal Groß und Niclas Füllkrug dem Mannschaftsrat angehört. Der Stammkeeper des FC Barcelona werde »die klare Nummer eins, verdientermaßen«, bestätigte der Bundestrainer: »Er hat über mehrere Jahre hinaus seine Leistung gebracht.« Hinter dem 32-Jährigen gibt es keine klare Nummer zwei: Die aktuell nominierten Torhüter Oliver Baumann und Alexander Nübel duellieren sich also dahinter noch auf Augenhöhe. Nagelsmann hat nur einen Neuling (Angelo Stiller) für den großen Umbruch berufen. Die Stütze des VfB Stuttgart wollte Nagelsmann aber nicht zum Kroos-Erben machen: »Den Druck will ich ihm nicht geben« Gleichwohl bringe Stiller viel mit, sei , defensiv intelligent, offensiv dominant. Doch auch Groß könne auf dieser Position spielen, dazu Aleksandar Pavlovic. »Ich habe gar nicht die Idee, dass jemand Toni eins zu eins ersetzt. Unser Spiel wird sich minimal ändern.«
Deutlich verjüngtes Aufgebot
Das deutlich verjüngte Ensemble – das Durchschnittsalter liegt jetzt bei 26,8 Jahren – wird überdies mit einem anderen Rollenverständnis beauftragt. Die strikte Trennung zwischen Stammspielern und Reservisten entfällt. Es sei gewiss nicht seine Idee, »den ganzen Kader zwischen September und Oktober auszutauschen oder jedesmal zehn neue Spieler einzuladen«, aber es könne passieren, dass jemand wie Havertz während einer Länderspielmaßnahme auch mal zuschaue. Bleiben müsse das Verständnis fürs schwarz-rot-goldene Gemeinschaftswerk, mahnte der Cheftrainer scharfsinnig an: »Ich will keine langen Gesichter sehen.« (GEA)