NÜRNBERG. »Der neue Stern am Tennishimmel«, »Ein himmlisches Talent«, »Das Tennis-Wunderkind lässt Deutschland träumen«: Die Medienhäuser der Republik überschlugen sich förmlich mit Superlativen im Laufe der vergangenen Woche. Der Hauptdarsteller selbst hat all diese Schlagzeilen und Artikel gelesen. »Jeder, der sagt, dass er sich das nicht anschauen würde, lügt«, meint Justin Engel im exklusiven Gespräch mit dem GEA. Und dennoch ist es spannend zu wissen, wie es sich für einen erst vor drei Wochen 17 Jahre alt gewordenen Teenager anfühlen muss, wenn er plötzlich offenbar die Hoffnungen von Millionen von deutschen Sport-Fans auf seinen Schultern trägt. Was macht das mit diesem jungen Mann aus dem Frankenland?
»Ich gehe eigentlich ganz locker damit um. Es gibt doch eigentlich nichts Besseres, als sich selbst in den Zeitungen und Nachrichten zu lesen und zu sehen«, antwortet Engel cool und lacht. Ziemlich cool war der Nürnberger auch in der vergangenen Woche. Es war der Moment, als er die Tennis-Welt ins Staunen versetzte und für die erste richtige Duftmarke in seiner noch jungen Karriere sorgte. Mit genau 17 Jahren und 13 Tagen gewann Engel in Almaty/Kasachstan gegen den um mehr als 300 Plätze in der Weltrangliste besser platzierten Coleman Wong aus Hongkong seine erste Partie auf der ATP-Tour. Das ist die höchste Turnierebene im Profitennis. Damit ist der 1,88 Meter große Rechtshänder der jüngste Spieler seit dem vierfachen spanischen Grand-Slam-Gewinner Carlos Alcaraz im Jahr 2020, der in einem ATP-Match triumphierte. Zum Vergleich: Der deutsche Weltklasse-Profi Alexander Zverev war bei seinem ersten Erfolg rund zwei Jahre älter. Überhaupt war erst ein Deutscher bei seinem ersten ATP-Sieg jünger als Engel. Ein gewisser Boris Becker.
Straffes Tagesprogramm
»Ich habe einfach eine Struktur im Leben. Alles ist schon geplant«, sagte Top-Talent Justin Engel im GEA-Gespräch. Das beweist ein Blick auf sein tägliches Programm. Der Tag beginnt beim 17-Jährigen in der Regel zwischen 7 Uhr und 7.30 Uhr. Seine morgendliche Routine? Eine Portion Haferbrei. »Das esse ich seitdem ich 3 bin jeden Tag. Da gibt’s nichts anderes«, erzählt Engel und lacht. Jeden Tag stehen rund vier Stunden Tennis-Training auf dem Plan. Dazu kommen rund eineinhalb Stunden Arbeit im fitnessspezifischen Bereich und noch eine halbe bis dreiviertel Stunde Beweglichkeitsübungen. Gegen 19.00 Uhr neigt sich der sportliche Tag dem Ende entgegen. Um 20 Uhr wird zu Abend gegessen. »Danach setze ich mich hin und wieder noch ein bisschen vor die Playstation«, berichtet der Nürnberger. Dann geht’s ins Bett, bevor am nächsten Tag das Programm wieder von vorne startet. (ott)
Engel, der in diesem Jahr schon mit vier ITF-Future-Turniergewinnen beeindruckte, befindet sich demnach auf den Spuren der Größten. Dass das längst jedoch noch nicht ein Freifahrtsschein für eine ähnlich erfolgreich verlaufende Karriere ist, weiß vor allem einer: Vater Horst. »Es ist ein Marathon«, betont der 65-Jährige, der früher selbst ambitioniert Tennis spielte, sich sogar zum Europameister bei den Herren 45 krönte und viele Jahre Trainer der ehemaligen deutschen Top-50-Spielerin Anca Barna gewesen war, gegenüber dem GEA. Engel Senior kennt das Geschäft und ist seit jeher der engste Wegbegleiter seines Juniors. Er ist der Mann hinter den Kulissen, der Hauptansprechpartner in allen Fragen, Trainer und Manager in einer Person und überall mit dabei. Vater Horst war es auch, der bereits im frühen Kindesalter erkannte, dass ein bestimmtes Talent in seinem Sohn schlummert.
»Beim Tennis ist es sehr wichtig, dass du starke Handgelenke, generell gute Krafthebel hast«, erklärt er und ergänzt in bestem Fränkisch: »So wie er klein war, mit drei oder vier Jahren, war er a weng a aggressiver Typ. Wir haben aus Spaß immer wieder miteinander gerauft.« Da sei Engel senior, der eine eigene Zeltbaufirma leitet und viele Jahre lang auch ein Fitnessstudio betrieben hat, aufgefallen, dass »Justin sehr gute Unterarmhebel hat«. Die optimalen Startvoraussetzungen sozusagen. Wobei dem heute jüngsten Spieler unter den Top 400 der Weltrangliste (ATP-Platz 398) der Tennissport laut eigener Aussage damals noch gar nicht eine so große Freude bereitet habe.
Das Mindset eines 30-Jährigen
»Erst als ich die ersten größeren Turniere mit elf Jahren gewonnen habe, hat es angefangen, mir richtig Spaß zu machen«, berichtet das deutsche Top-Talent, das in dieser Zeit nebenbei auch gelegentlich im Kickboxen unterwegs war. »Naja, welches Kind hat wirklich Bock in diesem Alter«, grätscht sein Vater augenzwinkernd dazwischen. Justin habe grundsätzlich genauso viel Lust gehabt am Tennis wie die anderen Kinder, versichert er. »Aber wir haben halt nochmals deutlich mehr gemacht als die anderen. Und deshalb hatte er nach der dritten oder vierten Stunde vielleicht nicht mehr so viel Bock. Ich habe aber immer weitergemacht und weitergepusht, weil ich wusste, dass es hinten raus was werden wird«, ergänzt der 65-Jährige weiter. Der Junior selbst betont: »Mein Vater hat schon immer gewusst, dass er mich zum Profi-Spieler machen wird.«
Was aber zeichnet den 17-Jährigen neben seinem offenbar enorm ausgeprägten sportlichen Talent am Schläger aus? »Das Mentale im Kopf«, antwortet Horst Engel wie aus der Pistole geschossen. »Ich habe mit sehr vielen erfahrenen Top-Leuten gesprochen, die fast nur Olympia-Athleten betreuen, und alle meinten nach den Tests, die sie mit Justin gemacht haben: Er hat ein Mindset von einem 30-Jährigen.« Ein Eindruck, der sich auch mit dem ausführlichen GEA-Gespräch deckt. Engel wirkt trotz seiner zarten 17 Jahre extrem abgeklärt und deutlich weiter in seiner Entwicklung als Gleichaltrige. Ein junger Mensch, der bereits jetzt genau weiß was er will und was es dafür braucht. »Ich habe einfach eine Struktur im Leben. Alles ist schon geplant. Ich verschwende keine Zeit. Ich will jeden Tag besser werden«, sagt Engel, der im vergangenen Jahr die Mittlere Reife erfolgreich abschloss und sich seitdem nur noch auf Tennis konzentriert.
Guter Draht zum Ohmenhäuser Profi Tim Handel
Sein Lebensmittelpunkt variiert dabei. Wenn er nicht gerade auf Turnieren unterwegs ist, trainiert Engel entweder im heimischen Nürnberg »sehr oft« gemeinsam mit Maximilian Marterer (2018 noch die Nummer 45 der Welt), an der Tennisbase Oberhaching, »die sehr stark hinter mir steht« oder an der Tennis-Akademie von Ex-Profi Alexander Waske in Offenbach. Dort trainiert unter anderem auch der Ohmenhäuser Tim Handel, zu dem Engel einen guten Draht pflegt. Ab sofort soll jedoch alles noch professioneller werden rund um den 17-Jährigen. Der Plan ist, dass künftig die langjährige deutsche Nummer eins, Philipp Kohlschreiber, des Öfteren mit Engel trainiert und auch mit auf Turniere reist. »Es werden ungefähr 100 Tage sein. Wir werden uns eng abstimmen«, berichtet Vater Horst.
Was ebenfalls ein fester Plan ist: der Sprung in die Top 100. Wann das der Fall sein wird? Solche Prognosen verbieten sich. Ob das der Fall sein wird? Jedenfalls stehen die Chancen dazu nicht allzu schlecht. »Letztes Jahr hatte ich das Ziel gehabt, 2024 in den Top 800 zu stehen. Das ist geisteskrank schnell gegangen«, betont Engel rückblickend. Auch mit Blick auf die Top 100 weiß der 17-Jährige, worauf es ankommt: »Ganz klar die Fitness und vor allem das Mentale. Es gibt so viele gute Spieler in den Top 200 bis 300, die eine viel bessere Technik haben als manche Top-50-Spieler. Aber sie schaffen es halt nicht, den Ball reinzuspielen, wenn es eng wird.«
Rafael Nadal als Vorbild
Performen unter Druck: Die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Karriere und ein Attribut, das der Teenager selbst als eine seiner größten Stärken bezeichnet. »Ohne Druck ist alles zu langweilig«, findet Engel. Vielleicht liege es auch an seiner Kickbox-Vergangenheit, dass er damit sehr gut umgehen könne, meint er. Jedenfalls: »Ich brauche das einfach im Leben. Es gibt mir die Motivation, immer weiterzumachen«, betont der Tennis-Youngster, der sich vor Matches äußerst ungern mit detaillierten Analysen auseinandersetzt. »Da versteife ich dann zu viel und spiele nicht mein Spiel. Ich bin ein Gefühlsspieler. Ich schaue mir das Match an und dann weiß ich nach vier oder fünf Spielen, was der Gegner kann und was nicht.«
Sein Vorbild ist Rafael Nadal, der nach dieser Saison seine Karriere beenden wird. »Ich bin auch so ein Kämpfertyp auf dem Platz und tue alles dafür, um zu gewinnen«, sagte Engel in einem Interview mit tennis.de im September. Dort berichtete er auch: »Ich habe einen Plan und ein Ziel in meinem Leben«. Was das konkret bedeutet? »Das behalte ich für mich«, antwortet Engel im GEA-Gespräch. Er verrät nur so viel: »Es gibt aber nichts Besseres für mich, als gemeinsam mit meinem Vater Erfolge zu feiern. Der Sieg in Almaty war ein unfassbares Gefühl.« Ein Gefühl, das hoffentlich bald schon ein Stück weit zur Gewohnheit wird für den 17 Jahre alten Nürnberger. Das wünscht sich sicherlich auch Sport-Deutschland. Denn bislang schien es, als stünde dem deutschen Tennis für die Zeit nach Alexander Zverev eine Dürreperiode bevor. Justin Engel hat die Fähigkeiten und vor allem den Willen dazu, das zu ändern. (GEA)