REUTLINGEN. Reutlingen musste sich strecken", titelte der GEA in der Ausgabe vom 24. Oktober 1949. Die Rede war von den Fußballern des SSV Reutlingen, die in der Oberliga Südwest bei der Spvgg Trossingen 1:0 gewannen. "Wer von den Reutlingern einen glatten Sieg und ein ausgezeichnetes Spiel erwartete, wurde enttäuscht", hieß es in dem Spielbericht. GEA-Redakteure waren damals bei Auswärtsspielen noch nicht dabei. Unter dem Bericht der Partie Trossingen gegen Reutlingen stand das Kürzel "ro". Das Tor des Tages vor 1.500 Zuschauern fiel in der 73. Minute. Der GEA-Mitarbeiter beschrieb diesen Treffer wie folgt: "Nach einer Ecke von Baum köpft Scheuffele überlegt zu dem links lauernden Pflumm, der platziert und scharf ins lange Eck schießt."
Der SSV Reutlingen in der Spielzeit 1949/50 – das war eine Erfolgsgeschichte. Es war eine Zeit, in der auf den Kennzeichen der wenigen hiesigen Autos noch »FW« stand (für Französisch-Württemberg) und in der auf die Briefumschläge die Postleitzahl »14b« geschrieben wurde. Seit dem Herbst 1947 spielte der SSV in der Oberliga Südwest, Gruppe Süd. In der ersten Saison sprang Platz sieben heraus, ein Jahr später Rang sechs. Aufsteiger Tübinger SV 03 kam als Aufsteiger in der Spielzeit 1948/49 als Zweiter ins Ziel.
Keine Chance gegen Walter-Elf
1949/50 holte sich der SSV Reutlingen mit 46:14 Punkten den Titel, gefolgt vom Tübinger SV 03 (41:19). Im Kampf um die Zonenmeisterschaft traf der SSV als Meister der Gruppe Süd auf den 1. FC Kaiserslautern, den Ersten der Gruppe Nord. Die Lauterer um Fritz Walter waren damals in Südwestdeutschland das Maß der Dinge. Vor 15.000 Zuschauern in Ludwigshafen stand es nach 90 Minuten sensationell 1:1. In der Verlängerung setzte sich die Walter-Elf noch mit 6:1 durch.
Für den SSV aber kein Grund zum Trübsal blasen. Die Schützlinge von Trainer Bruno Ripke durften in einem weiteren Spiel gegen Wormatia Worms den neben Kaiserslautern zweiten Teilnehmer für die DM-Endrunde ermitteln. Vor 10.000 Besuchern in Tübingen führte Worms zur Pause 2:0. Nach 90 Minuten hieß es 2:2. Der SSV gewann schließlich 4:3 nach Verlängerung und durfte im Achtelfinale um die deutsche Meisterschaft gegen Preußen Dellbrück antreten, eine Kölner Vorstadt-Elf mit Fritz Herkenrath im Tor. Die Reutlinger verloren 0:1 nach Verlängerung. Fünf Jahre später, in der Saison 1954/55, qualifizierte sich der SSV als Zweiter der Oberliga Süd – in der Abschlusstabelle weit vor Eintracht Frankfurt, VfB Stuttgart und Bayern München – erneut für die Endrunde um die »Deutsche«. Dabei zogen die Reutlinger gegen den SV Sodingen und Wormatia Worms den Kürzeren.
Fußball im Jahr 1949 war aber natürlich nicht nur SSV Reutlingen und Oberliga, sondern auch Landesliga, Bezirksklasse und A-Klasse. An jenem 24. Oktober spielte beispielsweise in der Landesliga der TSV Eningen gegen den VfB Pfullingen, der erst ab der Runde 1952/53 unter dem Namen VfL Pfullingen firmierte. »Die Lokalbegegnung zwischen Eningen und Pfullingen wurde von über 1.000 Zuschauern besucht«, war damals im GEA zu lesen. Die Partie endete 1:1 und stand unter der Leitung von Schiedsrichter Ostermaier aus Gönningen, dem der Berichterstatter eine »tadellose Leistung« bescheinigte.
Im Fußball-Bezirk Alb fand nach dem Krieg ab der Saison 1948/49 wieder ein geregelter Punktspielbetrieb statt. Enorme Verdienste erwarb sich dabei Erwin Balderer, der wohl wichtigste Fußball-Funktionär, den die Region je hatte. Wenn man sich vor Augen führt, welche Posten Balderer inne hatte und wie lange er diese Ämter bekleidete, reibt man sich verwundert die Augen: Kann das möglich sein?
Es war möglich. Der am 2. Dezember 1899 in Reutlingen geborene Balderer gehörte 1913 zu den Gründungsmitgliedern des TB Pfullingen, war später Spielführer des TB, Fußball-Schiedsrichter, Abteilungsleiter des VfL Pfullingen, Gründungsmitglied des Südwürttembergischen Fußballverbands, von 1948 bis 1985 Vorsitzender des Bezirks Alb, von 1948 bis in die späten 1980er-Jahre Staffelleiter der A-Klasse (später Bezirksliga), von 1945 bis 1989 Bezirkskassierer. Mehr geht nicht. Der gelernte Bilanzbuchhalter Erwin Balderer – ein Pionier des Fußballs, eine echte Persönlichkeit, ein Kamerad (»ich bin der Erwin«).
Boxen in der Achalmstadt, Boxen unter dem Dach des SSV Reutlingen – da gab es in den 1950er-Jahren viele unvergessliche Veranstaltungen. Damals war der SSV als Mannschaft selbst in Europa kaum zu schlagen. »Wir haben gegen Lazio Rom, gegen Partizan Belgrad, Honved Budapest und viele deutsche Staffeln geboxt«, blickt Kalli Floten zurück. Dabei gab es nur eine Niederlage. Gegen Belgrad. Floten: »Und dieses Team war fast identisch mit der Nationalstaffel von Jugoslawien.«
Bei der Frage, ob sich der SSV in diesen Vergleichen mit Kämpfern aus anderen württembergischen Vereinen verstärkt habe, erntete der Schreiber dieser Zeilen bei einem Gespräch mit einigen Boxern jener Erfolgsära ungläubiges Staunen. Und dann gab’s die Belehrung: »Der SSV war die württembergische Auswahl«, lacht Floten. Wenn die SSVler in der Jahnhalle in den Ring stiegen, war die mit 1.000 Besuchern stets rappelvoll. Bei ganz großen Kämpfen musste die Truppe deshalb in die Listhalle umziehen – und dort wurden beim Duell mit Lazio Rom 4.000 Zuschauer gezählt.
Sigi Otter, Kalli Floten, Otto Tahedl, Hans-Werner Hammermann, der ebenso wie Paul Kießling vom TSV Eningen zum SSV kam, Adi Kaimonoff, Balle Brehme, Viktor Pogorzalek – die Liste versierter und erfolgreicher Boxer ließe sich beliebig verlängern. »Der Beste von allen war Kalli Floten«, versicherte Sigi Otter beim Ehemaligen-Treffen im Juli 2005. Bemerkenswert: 1954 kam Hans Ziglarski als Trainer zum SSV. Ziglarski arbeitete davor als Reichs- und Bundestrainer und hatte als Aktiver eine ansehnliche Laufbahn. 1932 holte Ziglarski bei den Olympischen Spielen die Silbermedaille. Zudem war er Europameister.
Man schrieb das Jahr 1953, als sich die Schwimmer des SSV Reutlingen zum ersten Mal in der Liste der deutschen Meister verewigen durften. Bei den Titelkämpfen in Wolfenbüttel triumphierte über 4 x 100 Meter Schmetterling das Quartett Bruno Braun, Herbert Pfeiffer, Manfred Laskowski und Bruno Hörmann. Zuvor hatte Manfred Laskowski bereits für einen Paukenschlag gesorgt. Der immer freundliche und lustige »Manne«, so schrieb der unvergessene Reutlinger Sportjournalist Sepp Scherbauer, schwamm Weltrekord über 100 Meter Schmetterling, der allerdings nicht anerkannt wurde. Grund: Laskowski trug eine Dreiecks-Badehose – das war der Anlass für die Disqualifikation.
Brigitte Bockmaier bockstark
Wenn vom Schwimmen in Reutlingen die Rede ist, müssen unbedingt zwei Frauen erwähnt werden: Brigitte Bockmaier und Ursel Winkler. Beide zählten zur absoluten Elite in Deutschland. Bockmaier wurde 1953 als erste Reutlinger Schwimmerin in die Nationalmannschaft berufen. Sie wurde sechs Mal deutsche Meisterin, war deutsche Rekordhalterin über 100 Meter Freistil und bei den Europameisterschaften 1958 dabei.
In der Halle der Hermann-Kurz-Schule begann die Erfolgsgeschichte der Tischtennis-Abteilung des SSV Reutlingen. Im hiesigen Raum fand man kurz nach Kriegsende keine adäquaten Gegner. »Leider gab es bei Bempflingen die Zonengrenze und für Tischtennis-Spiele keine Passierscheine«, erinnerte sich einst Klaus Gengler, beim SSV als Spieler und vor allem als Funktionär eine Legende. Ortskundige Fans hätten deshalb die Gegner schwarz über die Grenze geholt. Gengler: »Bei solchen Spielen waren 500 Zuschauer keine Seltenheit.«
Walter Röhm, Willy Bronner, Dieter Mayer, Karl Beck, Armin Eckert hießen die Asse in den ersten Jahren. Zu Beginn der 1960er-Jahre übernahmen Freddy Haase, Bernd Steidle, Manfred Werner, Horst Terbeck, Manfred Grumbach und Oskar Schmollinger das Kommando. 1966 gehörte der SSV zu den Gründungsmitgliedern der Bundesliga. Jahre später startete der Club durch – Europapokalsieger der Landesmeister 1982 und 1983, Messepokalsieger 1980, deutscher Meister 1977, deutscher Pokalsieger 1976, 1977, 1980 und 1981. In dieser Zeit und bis Ende der 1980er-Jahre drückten Weltklassespieler wie Peter Stellwag, Mikael Appelgren, Ulf Thorsell, Peter Engel, Manfred Baum, Heinz Schlüter, Reinhard Sefried, Peter Auwärter und Guo Yuehua dem Reutlinger Tischtennis ihren Stempel auf. Auf nationaler Ebene ganz vorne mischten auch zwei Frauen mit – die einst beim GEA beschäftigte Hannelore Männer-Schneider und Erika Koch-Schmollinger.
Eine wichtige Rolle in und um Reutlingen hat schon immer der Handballsport eingenommen. In der Ausgabe vom 24. Oktober 1949 gab es allerdings im GEA eine heute nicht mehr mögliche Schlagzeile: »SSV Reutlingen Halbzeitmeister.« Die SSV-Handballer führten die Tabelle der Landesklasse Südwürttemberg an – seit den 1970er-Jahren wird beim SSV nicht mehr Handball gespielt. In späteren Jahren übernahmen der TV Neuhausen und der VfL Pfullingen die Vorherrschaft – Neuhausen schaffte viermal den Aufstieg in die Bundesliga, stieg aber viermal auf direktem Weg ab; Pfullingen gehörte von 1985 bis 2002 der 2. Bundesliga an. Danach spielte der VfL vier Jahre bis Juni 2006 in der Beletage.
Im Tennis sorgt vor allem der TV Reutlingen seit Jahrzehnten für Erfolge. Die Damen-Mannschaft feierte im Jahr 1982 die deutsche Meisterschaft.
Starke Leichtathleten
In den 1950er-Jahren sorgte eine Leichtathletin des SSV Reutlingen für Schlagzeilen: Ariane Döser. Sie holte als erste Athletin überhaupt einen DM-Titel in der olympischen Kernsportart in ihre Heimatstadt Reutlingen. Döser war 1956, 1957 und 1958 über 800 Meter die Beste in Deutschland und wurde bei den Europameisterschaften 1958 Vierte.
In späteren Jahren schnupperten zwei Athleten sogar olympische Luft. Beide kamen vom TSV Genkingen – Gudrun Abt (heute Abt-Nothdurft) und Willi Maier. Abt wurde über 400 Meter Hürden drei Mal deutsche Meisterin, belegte bei den Olympischen Spielen 1988 Platz sechs und bei der EM 1990 Rang vier. Maier durfte sich bei den Olympischen Spielen 1972 und 1976 über 3.000 Meter Hindernis auf der olympischen Bühne präsentieren. Interessant: Maier formte Abt als Trainer zu einer Weltklasse-Athletin. (GEA)