REUTLINGEN. Es ist der längste Anlauf in meiner Journalisten-Laufbahn. Seit Jahrzehnten steht auf meiner persönlichen Geschichten-Prioritätenliste der Name Jürgen Zitzer weit oben. Seit Jahrzehnten gibt es anscheinend keinen Weg, mit dem ehemaligen Kicker des SSV Reutlingen Kontakt aufzunehmen, ist er doch als Weltreisender fast nie in der Achalmstadt anzutreffen. Dann fällt vor vielen Monaten vor dem Reutlinger Oberligaspiel in Holzhausen im Gespräch mit Robert Piller der Name Jürgen Zitzer. »Jürgen ist ein ganz feiner Mensch. Morgen hole ich ihn am Flughafen ab«, erzählt Piller, der einst an der Seite von Zitzer in der 2. Bundesliga für den SSV und den SC Freiburg am Ball ist. Ich staune Bauklötze. Und fiebere der Begegnung mit dem mittlerweile 72-Jährigen entgegen.
Schließlich vergehen weitere Monate, ehe Zitzer von seinem Manchmal-Wohnort Wolfegg in die Redaktionsräume des Reutlinger GEA kommt. Kaffee gefällig? »Trinke ich nicht.« Vielleicht ein paar Kekse? »Esse ich nicht.« Überhaupt ist Essen für den Vegetarier nicht wichtig. »Ich faste vier Mal pro Monat. Fasten ist für mich Erholung.« Fleisch könne er »nie wieder in meinem Leben« essen. Auch Rauchen und Trinken werde er nie mehr in seinem Leben. Seine SSV-Mitspieler aus den 1970er-Jahren kennen noch den anderen Jürgen Zitzer. »Früher haben wir im Black Mustang schon mal die Sau rausgelassen«, sagt Zitzer mit einem Grinsen im Gesicht. »Vor den Spielen waren wir jedoch diszipliniert«, fügt er mit Nachdruck hinzu.
Zitzer hat sich bis 1981 dem Fußball verschrieben. Er hätte weiterhin beim damals in der 2. Liga angesiedelten SC Freiburg als torgefährlicher Mittelfeld-Dauerläufer ordentliches Geld verdienen können. Doch Zitzer schließt das Kapitel Fußball ab. Und schlägt das Kapitel Missionar auf.
Mit 29 Jahren beginnt Zitzer ein neues Leben. In Schweden absolviert er eine Ausbildung zum Mönch und Missionar. Und bereist danach über 100 Länder. Vor allem in Indien und Kroatien hält er sich häufig auf. Er begleitet zahlreiche soziale Projekte, hilft beim Aufbau von Schulen und beim Bewirtschaften von Landwirtschaftsflächen. Zitzer zitiert häufig den »Meister«, der beispielsweise bereits im Jahr 1986 eine Trinkwasser-Knappheit und Natur-Katastrophen prophezeit habe. Zitzer legt Wert darauf, dass er keiner Sekte angehört (»das lehne ich ab«).
»Ich habe diesen Schritt nie bereut und möchte mit niemandem tauschen«, betont Zitzer, dessen Eltern und eine Schwester verstorben sind. Eine weitere Schwester lebt in Griechenland. Yoga-Meditation mache er bis zu seinem Lebensende. »Der Mensch muss Frieden im Geist haben, den habe ich und den behalte ich.« Zitzer betont allerdings mehrmals, dass er kein Prediger sein wolle, kein Besserwisser und kein Bekehrer. »Ich respektiere alles.« Bis vor wenigen Jahren nutzt Zitzer seine Stippvisiten in Reutlingen, um mit ehemaligen Mitspielern Fußball zu spielen. Dass er wie zu seinen Zeiten als Fußballer über eine ausgesprochen gute Kondition verfügt, unterstrich er vor 15 Jahren, als er beim Berlin-Marathon nach 3:11 Stunden ins Ziel lief. »Das ist ein unwahrscheinliches Erlebnis, wenn 40.000 Leute losrennen.«
Als Sannyasi - der Mönch Sannyasi hat diese Yoga-Bewegung gegründet - lebt Zitzer in Besitzlosigkeit. Sein als Fußballer verdientes Geld habe er in soziale Projekte gesteckt. Zitzer ist überzeugt davon, dass Menschen, die sich der Yoga-Meditation widmen, »die Möglichkeit haben, mit ihrem Leben besser zurecht zu kommen«. Und Sportler könnten bessere Leistungen abrufen. Zitzer betont immer wieder, dass er nicht als Bekehrer auftreten wolle, beim Thema Yoga-Meditation kommt er jedoch aus dem Schwärmen nicht heraus: »Yoga-Meditation ist für jeden zugänglich und kann eine große Bereicherung im Leben sein.«
Zitzer beginnt mit sechs Jahren bei der TSG Reutlingen mit dem Fußballspielen. »Ich bin in der Römerschanz-Siedlung aufgewachsen. Wir sind jedes Jahr Meister geworden.« In der D-Jugend habe sich die halbe Mannschaft dem SSV angeschlossen, erinnert er sich. Nach seiner A-Jugendzeit wechselt er zusammen mit Trainer Rudolf Schießl, Werner Laudage und Wolfram Taxis zum FV 09 Nürtingen, der damals in der 1. Amateurliga Nordwürttemberg (die dritthöchste Spielklasse) um Punkte kämpft. Interessant: Wenn die Rede auf Laudage kommt, gerät Zitzer ins Schwärmen: »Werner hätte den Sprung in die Bundesliga schaffen können.« In jener Zeit schließt Zitzer seine Ausbildung zum Speditionskaufmann ab und arbeitet einige Jahre in diesem Beruf.
1974 kehrt Zitzer zum Kreuzeiche-Club zurück. Und erlebt mit dem SSV Reutlingen vier beeindruckende Spielzeiten. In der Saison 1974/75 wird das Team von Trainer Schießl Meister, Zitzer avanciert mit 17 Erfolgen zum Torschützenkönig der Schwarzwald-Bodensee-Liga, und in der Aufstiegsrunde surft der SSV auf einer Euphoriewelle. »Mit dem sagenhaften Publikum im Rücken haben wir uns in einen Rausch gespielt.« In den drei Heimspielen gegen den VfB Eppingen, Offenburger FV und VfR Aalen strömen 35.500 Zuschauer ins Kreuzeiche-Stadion. Der SSV stürmt mit 10:2 Punkten in die 2. Bundesliga.
In der 2. Liga muss der SSV 1975/76 Lehrgeld bezahlen und steigt letztlich sang- und klanglos ab. »Wir gingen das Abenteuer total unprofessionell an und haben uns nicht verstärkt.« Zudem habe der Verein damals nach dem Rückzug von Schießl mit Fred Hoffmann einen Coach »aus dem Vorruhestand geholt. Er war mal ein guter Trainer, hat es aber bei uns auslaufen lassen«. Zitzer absolviert in jener Zweitliga-Runde 31 Begegnungen und erzielt vier Tore. Am vierten Spieltag sorgt er bei der 2:4-Niederlage in Mainz für den ersten Reutlinger Treffer im Bundesliga-Unterhaus.
1976/77 und 1977/78 stürmt der SSV mit Zitzer (»im Mittelfeld habe ich mich am wohlsten gefühlt«) als Schwungrad zwei weitere Mal zur Meisterschaft in der Schwarzwald-Bodenseeliga, muss sich aber in der Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga mit den Plätzen zwei und drei begnügen. Das Jahr 1977 stellt im Leben des Jürgen Zitzer einen Wendepunkt dar: »Damals habe ich mit Yoga angefangen, bin Vegetarier geworden und habe seither nie mehr geraucht.« Im Frühjahr 1978 wird es turbulent an der Kreuzeiche. »Es fehlte ein Konzept. Jeder gab seinen Senf dazu, eine Spieler-Revolution, wie häufig kolportiert wurde, gab es allerdings nicht«, so Zitzer, der sich selbst als »schnell, ausdauernd, dribbel- und kopfballstark« bezeichnet. »Ich war überall gut, aber nirgends sehr gut.«
1978, als die Oberliga Baden-Württemberg installiert wird, fällt das Team des SSV auseinander. »Geld war mir nicht wichtig. Ich wollte Erfolg und eine gute Harmonie in der Mannschaft.« Also schließt er sich dem DJK Konstanz an, für den er 38 Oberligaspiele bestreitet und zwölf Tore markiert. An der Seite von Heiko Hildebeutel (»der versenkte Freistöße mit Ansage, so etwas habe ich davor und danach nie erlebt«) mischt Zitzer die Oberliga auf. Der Zweitligist SC Freiburg beobachtet den gebürtigen Reutlinger und stattet ihn nach einem überragenden Auftritt gegen den SSV Ulm 1846 mit einem Vertrag aus.
1979 wird Zitzer, übrigens gemeinsam mit Robert Piller, Profi beim SC Freiburg, für den er in zwei Spielzeiten 60 Mal aufläuft und neun Tore erzielt. Zu seinen Mitspielern im Breisgau gehört Joachim Löw. Der spätere Weltmeister-Bundestrainer sei ein feiner Fußballer und zurückhaltender Mensch gewesen. 1981 legt Zitzer seine Kickstiefel zur Seite, beginnt ein neues Leben als Missionar - und hat diesen Schritt nie bereut. (GEA)