REUTLINGEN. »Jag ihn, jag ihn, jaaaag ihn«, hört man es am Sonntagmittag im Markwasen über den Rasen des Medica-Logistik-Park schallen. Mit der absoluten Galligkeit und der puren Geilheit auf den Ball nehmen sich das die Offensivspieler der Young Boys Reutlingen zu Herzen. Sie stürmen nach dem Anstoß der TSG Tübingen wie von allen guten Geistern verlassen dem Rückpass zu TSG-Verteidiger Julio Leitao Gourgel hinterher und erzwingen durch ihr powervolles Anlaufverhalten einen langen Befreiungsschlag, der im Seitenaus landet.
In dieser Situation eröffnete Schiedsrichter Tobias Lauber mit seinem Pfiff allerdings nicht etwa das mit Spannung erwartete Lokalderby um kurz nach 15 Uhr. Der Referee gab vielmehr das Spielgeschehen wieder frei, nachdem YB-Angreifer Marko Drljo gerade auf 3:0 für die Reutlinger gestellt hatte - gerade einmal 32 Minuten waren da gespielt. Das war dem Verbandsliga-Aufsteiger aber herzlich egal. Die Spieler stürmten und sprinteten als kompakter Abwehrblock auch nach der vorzeitigen Entscheidung weiter als gebe es kein Morgen. Das war Pressingfußball à la RB Leipzig zu seinen besten Zeiten.
Es ist der absolute Wille und die Bereitschaft, die dazu führte, dass man nicht nur das Derby mit 5:1 (5:0) gegen die Unistädter für sich entschied, sondern damit das bereits sechste Spiel in Folge gewann. Die Young Boys sind einfach nicht zu stoppen. Vielmehr grenzte die erste Halbzeit gegen Tübingen an der Perfektion.
Die Young Boys fressen die Tübinger mit ihrer Energie auf
Die Hausherren fraßen die Tübinger mit ihrer unbändigen Energie und der enormen Zweikampfbereitschaft auf. Das Team von TSG-Trainer-Urgestein Michael Frick wusste in der ersten Hälfte nicht wie ihm geschieht. »Die Jungs haben ganz genau das gemacht, was wir uns vorgenommen haben. Den Gegner stressen, den Gegner die ganze Zeit unter Druck setzen, dem Gegner keine Zeit lassen. Dann kommen die Fehler, wir erobern die Bälle weit vorne und machen dann die Tore«, betonte Reutlingens Coach Volker Grimminger.
Winter-Zugang Adil Iggoute hatte bereits nach fünf Minuten einen Doppelpack gegen seinen Ex-Club geschnürt. Zweimal stand der 26-Jährige nach zwei Freistößen aus fast identischer Position von halbrechts durch Kevin Haußmann goldrichtig. Beim ersten Mal köpfte er am langen Pfosten ein (3.), zwei Minuten später bestrafte er einen Fehler von Tübingens Keeper Hafiz Aslan kurz vor der Torlinie zum 2:0.
Wieder einmal wurde offensichtlich, wie gut der langjährige US-College-Spieler den Young Boys mit seiner starken Physis, großen Spielintelligenz und seinen eiskalten Torjäger-Qualitäten tut. Verrückt: Schon nach 36 Minuten machte der Reutlinger seinen Dreierpack perfekt. Damit steht Iggoute bei sieben Treffern nach fünf Einsätzen. Außenbahnspieler Luca Lennerth setzte mit einem Solo über das halbe Feld und dem Treffer zum 5:0 mit dem Pausenpfiff die Kirsche auf die Torte. Besser kann man eigentlich nicht spielen.
Mahnende Worte von Grimminger
Dann kamen die zweiten 45 Minuten. Und »eigentlich ist klar, dass man nach einem 5:0 einen Gang zurückschaltet«, meinte Trainer Grimminger. »Aber so wie wir es gemacht haben, hat es mich extrem aufgeregt und genervt. Das war fast schon respektlos gegenüber den Zuschauern, die Eintritt gezahlt haben«, ärgerte sich der 45-Jährige über die zweite Halbzeit. Ihm gehe es nicht darum, dass seine Spieler das Tempo rausgenommen hätten. »Aber es war nur noch Schnick-Schnack, nur noch klein-klein und auch die Restverteidigung haben wir vergessen.« Für viele mag das übertrieben, vielleicht sogar ein wenig arrogant klingen. Angesichts des deutlichen Erfolges und der zuvor mehr als beeindruckenden ersten Hälfte.
Doch mit diesen mahnenden Worten will Grimminger die Sinne seiner Spieler schärfen. Nach dem Motto: Jetzt bloß nicht arrogant werden in den nächsten Partien und nicht abheben. Denn Fakt ist: Die Young Boys können sich in dieser Top-Form nur selbst schlagen. Für die Tübinger hingegen heißt die Gegenwart nach dem vierten sieglosen Spiel in Serie: Knallharter Überlebenskampf im württembergischen Oberhaus. (GEA)