REUTLINGEN. Das Amtsgericht Reutlingen hat zwei 46 und 40 Jahre alte Krankenpfleger verurteilt, weil sie eine junge Kollegin, die erst wenige Monate in der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik (PP.rt) gearbeitet hatte, in ein Behandlungszimmer gelockt und dann angegriffen haben. Die 28 Jahre alte Pflegerin trug zwar keine körperlichen Verletzungen davon, leidet aber seit dem Vorfall im März 2023 an schweren psychischen Folgen und ist arbeitsunfähig. Die Motive der Täter bleiben weitgehend unklar.
Im Verfahren wurde ein halbes Dutzend Zeugen gehört, alles Kolleginnen und ein Kollege des Opfers, als auch der Angeklagten am PP.rt, sowie zwei Polizistinnen. Den Zeugenaussagen, den Ausführungen des Gerichts, des Staatsanwaltes, der Anwältin der Nebenklage sowie ihrer beiden eigenen Verteidigern folgten die zwei Angeklagten zunächst schweigend und ohne erkennbare Regungen.
Tat vor Gericht rekonstruiert
Vor Gericht wurde die Tat so rekonstruiert: Es ist Mittwochmorgen, der 22. März 2023, als es auf Station 2 des PP.rt ein gemeinsames Frühstück für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt. Eine Kollegin wird verabschiedet. Am Tisch verletzt sich das spätere Opfer mit einem Messer am Finger. Der stellvertretende Pflegedienstleiter nimmt sie deshalb mit in ein Behandlungszimmer, etwas weiter den Gang hinunter. Seinem Kollegen deutet er mit einer entsprechenden Kopfbewegung an, ihnen zu folgen. In diesem Zimmer greift er seine junge Kollegin offenbar völlig überraschend von vorne an und nimmt sie in einen sogenannten Deeskalationsgriff. Laut Anklageschrift packt er sie am Oberkörper und versucht sie zu fixieren. Dann kommt der zweite Angriff von hinten. Der andere Kollege hält sie ebenfalls fest und fasst sie an den Hals, dann an die Stirn. Schließlich wird ihr der Kopf nach hinten überdehnt.
Vor Gericht sagt die Angegriffene aus: »Ich bekam fürchterliche Angst und habe angefangen zu schreien. Dann hyperventilierte ich und schließlich fing ich an zu weinen.« Die beiden Angreifer lassen von ihr ab und sie flüchtet in einen anderen Behandlungsraum.
»Das, was die beiden Pfleger mit ihrer Kollegin gemacht haben, erfüllt die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung, der versuchten Nötigung und der versuchten Freiheitsberaubung«, sagt Staatsanwalt Burkhard Werner gleich zu Beginn des Prozesses. Offenbar erschreckt von der Wirkung ihres Angriffs versuchen die beiden Pfleger, die Tat bei ihrem Opfer zu beschwichtigen, später entschuldigen sie sich. Es kommt zu einem Gespräch mit der Klinikleitung und der vorgesetzten Ärzte. Die beiden werden daraufhin auf andere Stationen versetzt. Der Ältere kündigt später von sich aus.
Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt
Doch ihre Tat hat Spätfolgen. Die 28-Jährige erleidet zwar keine körperlichen Verletzungen, aber ihre Seele hat Schaden genommen. Wie massiv ihre Psyche unter dem Erlebten leidet, erfährt sie selbst erst in den Wochen und Monaten danach. Vor Gericht berichtet sie: »Ich entwickelte zunehmend Ängste, Panikattacken, Alpträume und Schlafstörungen. Die hab' ich heute noch. Ich gehe nicht mehr alleine aus dem Haus. Wenn ich alleine bin, schließe ich mich ein.« Ihre Hausärztin und die spätere Psychiaterin bestätigen: Die junge Frau hat eine posttraumatische Belastungsstörung.
Nach ihrer Probezeit in der Reutlinger Psychiatrie kündigt sie, begibt sich in Behandlung, wird krankgeschrieben, ist arbeitsunfähig - bis heute. Erst Ende 2023 erstattet sie auf Anraten ihres Vaters und von Bekannten Anzeige bei der Polizei. Auch die Polizistinnen, an die sich die 28-Jährige wendet, sagen vor Gericht aus: »Sie hat die Anzeige bei uns erst deshalb so spät gemacht, weil es ihr psychisch immer schlechter ging. Das hat man auch gemerkt, sie hat immer wieder geweint«, sagt eine der beiden Beamtinnen aus.
Schwammige Motivlage
Was die beiden erfahrenen Pfleger zu ihrer Tat veranlasst haben könnte? Die Frage wird letztlich nicht eindeutig beantwortet. Kann es das Selfie der jungen Kollegin vor dem Porsche von einem der beiden Angeklagten gewesen sein, das in der WhatsApp-Gruppe der Station geteilt wurde? Fühlte er sich dadurch vor den anderen bloßgestellt, hat ihn das schwer verärgert? Durchaus denkbar, sagt später Staatsanwalt Werner in seinem Plädoyer. Aber längst kein nachvollziehbares Motiv für einen solchen Angriff.
Was im Verfahren auch zur Sprache kommt: Der Pfleger mit dem Porsche, der stellvertretende Pflegedienstleiter, soll auch anderen Kolleginnen zumindest übel zugesetzt haben. Eine Zeugin berichtete davon, dass er einen Kaktus über ihren Arm gezogen habe, sodass die Stacheln steckenblieben. Auch habe er ihr Honig ins Haar geschmiert.
Täter-Opfer-Ausgleich angeboten
Als der Prozess sich nach vielen Stunden seinem Ende nähert, kommt ein wenig Leben auf die Anklagebank. Nach Beratungen mit ihren Anwälten wird ein gemeinsamer Schadenersatz von 5.000 Euro für die Frau angeboten. Als Täter-Opfer-Ausgleich.
In ihren Plädoyers heben sowohl die Verteidiger als auch der Staatsanwalt die massiven psychischen Folgen für die angegriffene Frau hervor. Die Verteidiger weisen darauf hin, dass keine Bösartigkeit dahinter gesteckt habe. Ein Anwalt beschreibt den jüngeren Angeklagten als stets freundlichen und hilfsbereiten Menschen.
Richter Philipp Ries verurteilt beide zu Geldstrafen von jeweils 7.200 Euro. Zuletzt brechen die Angeklagten doch ihr Schweigen und sagen, es tue ihnen unendlich leid. (GEA)
Im Gerichtssaal
Richter: Philipp Ries. Staatsanwalt: Burkhard Werner, Anwältin der Nebenklage: Marie-Luise Dumoulin. Verteidiger: Dr. Benjamin Chiumento, Florian Majer.