REUTLINGEN. Neuerungen, Innovationen, Reformen und Gegenreformen: Die Schullandschaft ist in steter Bewegung. Vor allem, wenn es politische Wechsel in den Kultusministerien gibt, wird schnell mal alles vom Kopf auf die Füße gestellt - oder alles steht Kopf? Wie auch immer: Dass in der Schullandschaft nichts beständiger ist als der Wandel, dürfte jedem Schulleiter im Lande nur allzu gut bekannt sein. Entsprechend ruhig nehmen es viele Rektoren hin, dass das Land sich auf Druck aus der Elternschaft nach 20 Jahren vom Turbo-Abi G8 verabschiedet und zum altgedienten G 9 zurückkehrt.
Das G8 nicht schlechtreden
»Wir erwarten einigermaßen gelassen die Dinge, die da kommen«, sagt Dr. Günter Ernst als Geschäftsführender Schulleiter der Reutlinger Gymnasien. Er könne die Motivation der Eltern nachvollziehen, die seit vielen Jahren fordern, dass das Gymnasium wieder neun Jahre dauern soll. Allerdings erfasst ihn nach 20 Jahren G8 auch ein gewisser »Abschiedsschmerz«, wie er unumwunden einräumt. Er sehe das Ganze nicht schwarz-weiß, also mit einem guten G9 und einem G8, das die Schüler oft völlig überfordert. »Ich finde, am G8 war nicht alles schlecht«, betont der Pädagoge. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sei das G8 immer weiterentwickelt worden - und zwar zum Vorteil der Schüler, aber auch der Schulen. Einiges davon werde man mit Sicherheit vermissen.
So standen den G8-Gymnasien zum einen ein größerer Pool an Schulstunden zur Verfügung, die sie sowohl zur Vertiefung einzelner Fächer als auch für die Förderung von Fähigkeiten nutzen konnten, die so nicht zum Lehrplan gehörten. Einige dieser Poolstunden waren für alle verpflichtend, andere freiwillig. Im nun kommenden G9 wird die einzelne Schule nicht mehr so viel Freiheiten haben, wofür sie die Poolstunden verwendet. Diese Stunden sollen genutzt werden, um bestimmte Akzente in fünf Innovationsbereichen zu setzen. Der einzelnen Schule bleiben nur vier Poolstunden übrig, die sie einsetzen kann, um eigene Schwerpunkte zu bilden. Die Gymnasien in Reutlingen werden einander damit ähnlicher werden. Besonderheiten, wie etwa das bilinguale Profil oder der Einstieg mit zwei Fremdsprachen in Klasse 5 müssen künftig auch aus diesem Pool bestritten werden. Diese Stunden fehlen dann an anderen Stellen.
Auf dem Weg zum Einheitsgymnasium?
Das Kultusministerium sieht die wachsende Einheitlichkeit als Fortschritt, sorge sie doch für »landesweit einheitliche Qualitätssicherung und -entwicklung«, heißt es auf der Homepage. Außerdem müsse die jeweilige Schule keine eigene schulspezifische Stundentafel mehr erarbeiten. Günter Ernst sieht auch Vorteile für alle Schüler, die die Schule wechseln müssen. Das wird mit einer einheitlichen Stundentafel leichter.
Gleichwohl haben die »Reutlinger Fünf« stets Wert gelegt auf ihre jeweiligen Schwerpunkte. Ob Naturwissenschaften, dritte Fremdsprache, Musik-, Sport- oder Kunstprofil – jedes in Baden-Württemberg verfügbare gymnasiale Profil ist an mindestens einem Reutlinger Gymnasium ab der Mittelstufe im Angebot. Das wird auch so bleiben, aber trotz der Verlängerung um ein Jahr ohne zusätzliche Stunden. Allerdings: Das jüngste und erst vor wenigen Jahren mit hohem Aufwand eingeführte Profil »IMP«, das die Informatik in den Vordergrund rückt, fällt dem G9 zum Opfer. Einerseits. Anderseits wird die Informatik mit einem eigenen Fach zu finden sein, das von Klasse 7 bis 11 durchgehend unterrichtet wird. Und zwar an allen Gymnasien.
Als Stärke der Reform werden meist die Bereiche Demokratiebildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung genannt, die mit außerschulischem Engagement vertieft werden sollen. »Auch hier wird für alle zur Regel gemacht, was viele Gymnasien vorher schon von sich aus vorangetrieben haben«, so Günter Ernst.
In den Eingangsklassen sollen zusätzliche Stunden zu einer Stärkung der Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik führen, insgesamt wird die Zahl der Stunden aber durch das G9 weniger erhöht als gedehnt: Die bisherige Stundenzahl wird auf ein weiteres Jahr verteilt, zum Beispiel in den zweiten Fremdsprachen. Manche Fächer, wie etwa die Biologie sehen sich gar als Verlierer der Reform, weil ihnen durch den Wegfall bisheriger Kombinationen sogar Stunden fehlen werden.
Schule nur noch vormittags?
Weniger Stress und weniger Schule waren Motivationen für das Elternbegehren - und das wird nun umgesetzt: Künftige Fünftklässler haben voraussichtlich 28 Wochenstunden, im G8 waren es je nach Verteilung durch die Schule 30 oder mehr. Eine Folge davon ist der Verlust des Nachmittagsunterrichts in den Eingangsklassen: »Wenn wir die Vormittage wie bisher füllen, führt das dazu, dass die Klassen 5 bis 7 jeden Tag ab etwa 13 Uhr unterrichtsfrei haben«, sagt Günter Ernst. Fraglich sei, ob dies im Blick auf alle Eltern im Vorfeld bedacht worden sei. Denn gerade für Berufstätige, deren Kinder zuvor in der Ganztagsbetreuung waren, wird diese Umstellung nicht einfach. Am Albert-Einstein-Gymnasium, aber auch anderswo gibt es deshalb Überlegungen, den Unterricht anders zu verteilen, um den Nachmittagsunterricht wie bisher gewährleisten zu können. Eine Befragung der jetzigen Fünfer-Eltern, für die das G9 ja auch gelten wird, soll hier größere Klarheit über die Wünsche der Eltern schaffen.
Das Land erlaubt es den Schulen auch, das G8 parallel zum G9 anzubieten, wenn genügend Eltern dies wünschen. Allerdings darf dies keine zusätzlichen Kosten verursachen. Außerdem müssen die Inhalte und Anforderungen des G9 auch im »neuen« G8 umgesetzt werden, was zu einer Stundentafel führt, die um einiges stressiger wirkt als das bisherige G8. In Reutlingen überlegen sich derzeit zwei Gymnasien, das neue G8 parallel zum G9 anzubieten.
Elternwille für die Aufnahme nicht mehr allein entscheidend
Die Schüler und ihre Eltern werden mit dem G9 sicherlich weniger unter Druck stehen - und damit ist eines der großen Ziele erreicht. Allerdings wird die Schulaufnahme nicht mehr allein vom Elternwillen abhängen, sondern vom Votum der Grundschule oder von standardisierten Testverfahren – vielleicht auch, damit Eltern das neue Gymnasium nicht auf die allzu leichte Schulter nehmen.
Die Schulleitungen haben immer wieder Rückmeldungen zur G9-Umstellung an die Politik gegeben. Wie diese Anregungen umgesetzt werden, ist freilich ungewiss. »Der politische Raum muss nun entscheiden«, sagt Dr. Ernst. Wie lautet das abschließende Fazit des geschäftsführenden Leiters der Reutlinger Gymnasien? Kurz gesagt: gelassen und offen für alles. »Es ist eine Entwicklung, von der man sich etwas versprechen kann«, fasst er zusammen, »aber er ist auch ein Abschied von Dingen, die wir im G8 gestaltet und begleitet haben.« (GEA)