KREIS REUTLINGEN. Die Zahlen der jüngsten Volkszählung sind schon seit Juni bekannt. Demnächst gehen nun die Feststellungsbescheide zum Zensus 2022 an die Gemeinden raus. Die große Bürgerinventur wird voraussichtlich auch diesmal für Turbulenzen sorgen.
Im Kreis Reutlingen ist der Bürgerschwund seit der letzten Volkszählung 2011 nach Ermittlung der Zensoren in vielen Städten und Gemeinden überschaubar. Der große Ausreißer: das Albdorf Gomadingen. 8,7 Prozent Einwohner weniger sind hochgerechnet, 200 Einwohner in Summe bei jetzt (laut Zensus) 2.085 Bürgern.
»Die finanziellen Auswirkungen sind richtig heftig«
Die Empörung im örtlichen Rathaus ist groß, auch weil Bürger Geld wert sind. Was die Kommunen als Zuweisungen vom Land bekommen, richtet sich unter anderem nach der Einwohnerzahl.
»Die finanziellen Auswirkungen sind richtig heftig«, fürchtet der Gomadinger Bürgermeister Klemens Betz. »Man will uns um die 1.000 Euro pro fehlendem Einwohner klauen – jährlich« – ab 2025 zunächst zur Hälfte, ab 2026 dann komplett (bis zum nächsten Zensus voraussichtlich im Jahr 2031). Bei einem Haushaltsvolumen von 5 Millionen Euro ist das über zehn Jahre richtig viel Geld, auch wenn die Gemeinde gut dasteht, schuldenfrei ist.
» Wir haben die 200 Einwohner nicht verloren, wir haben nachgezählt«
Kern der Empörung ist jedoch, dass die Zahlen im Zensus nach Betz’ Angaben nicht stimmen. »Wir haben die 200 Einwohner nicht verloren, wir haben nachgezählt, können jeden Namen nachweisen. Hier gibt es keinen Schwund.« In Gomadingen sei man »aus allen Wolken gefallen, insbesondere auch die Damen vom Einwohnermeldeamt. So eine saubere Buchhaltung und dann das«. In den letzten vier Wochen wurden Überstunden geschoben im Rathaus fürs Nachprüfen. Nun will man Widerspruch einlegen. »Sobald der Bescheid da ist, werden wir das aufarbeiten und nachweisen, dass die 200 noch hier wohnen.«
Zensus 2022
Wie viele Menschen leben in Deutschland? Wie wohnen und arbeiten sie? Darüber geben die Ergebnisse des Zensus 2022 Aufschluss. Die groß angelegte Bevölkerungsbefragung sammelte die Daten zum Stichtag 15. Mai 2022. Sie dienen als wichtige Planungs- und Entscheidungsgrundlage für Politik, Wirtschaft und Verwaltungen, um beispielsweise Infrastrukturmaßnahmen wie den Bau von Schulen und Kindertagesstätten besser planen zu können.
Durchgeführt wird der Zensus von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder. Er findet alle zehn Jahre statt (Mikrozensus jährlich). Für beide werden Haushalte befragt, die per Zufallsstichprobe ausgewählt werden. Die Interviewer kündigen per Post ihren Besuch an. Die Teilnahme kann nicht verweigert werden. Erhoben werden Geschlecht, Alter, Bildungsabschlüsse, Beruf und Zusammensetzung des Haushaltes. Personenbezogene Daten werden im Anschluss gelöscht, zensusrelevante anonym ausgewertet.
Der Zensus 2022 besteht aus einer Bevölkerungszählung sowie einer Gebäude- und Wohnungszählung. Für die Bürgerzählung wurden gut 10 Millionen Personen in zufällig ausgewählten Haushalten befragt. Für die Gebäude- und Wohnungszählung mussten die Teilnehmer selbst online einen Fragebogen ausfüllen.
Der Kritik von Gomadingens Bürgermeister Klemens Betz am Interview-Verfahren konnte nicht nachgeprüft werden, da der journalistische Informationsservice des Statischen Bundesamtes nicht erreichbar war und auch auf schriftliche GEA-Anfrage nicht reagiert hat. (GEA)
Klemens Betz beklagt das Verfahren: »Wenn ein Interviewer drei bis bis fünfmal zu einem Bürger hingeht und keiner zu Hause ist, dann wohnt dort für die Statistiker keiner.« Der Bürgermeister gibt sich jedoch zuversichtlich, dass der Gomadinger Widerspruch – zumindest dem gesunden Menschenverstand nach – erfolgreich ist. Die Nachzählung dürfte hilfreich sein. Eine kleine Gemeinde kann sie leisten. Für eine Große sei diese Form der Beweisführung jedoch zu aufwendig.
Auch andere Albdörfer werden sich nach Betz’ Einschätzung rühren – selbst wenn die Verlust-Prozentzahlen in bevölkerungsstärkeren Gemeinden niedriger sind, tun 50 oder 100 Bürger weniger ordentlich weh, gerade, wenn es sich um finanzschwache Gemeinden handele.
Der Zensus als Sinnbild: Der dienstälteste Bürgermeister im Landkreis beklagt sich darüber, dass seiner Wahrnehmung nach die große Politik den Kommunen das Leben immer schwerer macht: »Die Basis interessiert dort nicht mehr.« (GEA)