REUTLINGEN. Es ist eine Entwicklung, die bundesweit beobachtet werden kann: Immer mehr Menschen in Deutschland haben keine Wohnung oder sind von Obdachlosigkeit bedroht. Laut Bundesregierung waren dies 2024 mehr als eine halbe Million Menschen, und damit weit mehr als zwei Jahre zuvor.
In Reutlingen waren in diesem Zeitraum 399 Menschen obdachlos, davon 316 Erwachsene und 83 Kinder. Die Zahl der bearbeiteten Fälle stieg um zwei auf insgesamt 279. Dabei ist Obdachlosigkeit etwas, »das zunehmend auch die Mitte der Gesellschaft betrifft«, wie der Reutlinger Sozialamtsleiter Joachim Haas im Verwaltungs-, Kultur- und Sozialausschuss (VKSA) berichtete, »im Grunde kann es jeden treffen«. Denn die zentrale Ursache ist schlicht und ergreifend, »dass es zu wenig preisgünstigen Wohnraum gibt«, so Haas - und das trotz des Engagements der Reutlinger Wohnungsgesellschaft GWG, deren Arbeit der Amtsleiter ausdrücklich lobte.
"Obdachlosigkeit betrifft zunehmend auch die
Mitte der Gesellschaft"
Carolin Hankiewicz, Abteilungsleiterin in der Abteilung Unterbringung und Betreuung von Obdachlosen und Flüchtlingen, stellte dem Gremium die Fallzahlen für das vergangene Jahr vor, wies aber darauf hin, dass man hinter der Statistik nicht die einzelnen Schicksale vergessen würfe. »Hinter jeder Zahl steckt ein Mensch.« 279 Fälle von Menschen bearbeitete die Abteilung im Jahr 2024. 117 davon waren auf der Suche nach Wohnraum, 71 mussten ihre Wohnung wegen Mietschulden verlassen: Dies ist die bereits erwähnte Mehrheit, die aufgrund von knappem Wohnraum von Obdachlosigkeit bedroht ist. Die anderen Fallzahlen sind weitaus vielfältiger und nicht so zahlreich. So reichen die Gründe von Kündigungen wegen Eigenbedarfs (16 Fälle) über Familienstreitigkeiten (16) bis zu Haftentlassungen (11) oder Bränden (2).
Nach wie vor ist der Anteil von obdachlosen Männern größer als der von Frauen, verstärkt betroffen sind zudem Menschen über 67. Die meisten beziehen irgendeine Art der staatlichen Unterstützung, aber 15 Prozent sind darunter, die ein festes Erwerbseinkommen haben. Die Fallzahlen in der Stadt sind recht konstant geblieben, allerdings werden die einzelnen Beratungen und Hilfeleistungen komplizierter, sagt Hankiewicz. Besonders schwierig ist die Betreuung von psychische kranken Menschen, die obdachlos sind. Oft fehle es ihnen an der Krankeneinsicht oder dem Willen, etwas zu verändern, heißt es im Bericht. »Diese Personen sind massiv auffällig und belasten das gesamte Umfeld.«
"Diese Personen sind massiv auffällig und belasten das
gesamte Umfeld"
Eigentlich bräuchten diese Menschen zeitintensive Unterstützung und einen vertrauensvollen Zugang - etwas, das das Sozialamt nicht leisten kann. Auch mit der einen Sozialarbeiterstelle für Obdachlose sei es »nur sehr eingeschränkt zu stemmen«. Kurt Gugel (FWV), engagierter Arzt im Medmobil, regte deshalb an, eine zusätzliche Stelle zu schaffen. »Diese Menschen brauchen einen Ansprechpartner. Es wäre sinnvoll, das zu erweitern.« Den Bedarf konnte Verwaltungsbürgermeister Robert Hahn durchaus bestätigen, aber angesichts der Haushaltslage seien neue Stellen in diesem und vielen anderen Bereichen undenkbar. »Die Wahrheit ist, wir werden Stellen streichen müssen.«
Timo Widmaier (Die Linke) wies auf die grundsätzliche Thematik hin, dass immer mehr Menschen »Probleme haben, ihre Miete zu bezahlen - bis hin zur Obdachlosigkeit«. »Wir brauchen mehr Wohnungen«, stimmte SPD-Rat Helmut Treutlein zu. Bürgermeister Hahn könnte sich in diesem Zusammenhang durchaus vorstellen, »sozialplanerische Aspekte in der Bauleitplanung gleich mitzudenken« und so Wohnraum für sozial Schwaceh zu lancieren.
Joachim Haas forderte er einen »Dreiklang«, um der zunehmenden Gefahr Obdachlosigkeit zu begegnen: »Wir brauchen Hilfen im Vorfeld, günstigen Wohnraum und niedrigschwellige Begleithilfen«. Allerdings sehe er auf Landes- oder Bundesebene wenig politischen Willen, etwas zu tun. Derweil muss die Stadt ihrer Pflichtaufgabe weiter so gut als möglich nachkommen, nämlich Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Eine Aufgabe, »zu der wir verpflichtet sind - nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch«, so Grünen-Stadträtin Cathy Hammer.
"Die Zahlen sind erschreckend für
so ein reiches Land"
Unterstützt wird sie dabei tatkräftig von der Arbeiterwohlfahrt (AWO), die in der VKSA-Sitzung von ihrer Arbeit in diesem Bereich berichteten. So nahmen sie 110 Personen in den Notübernachtungsstellen des Landkreises auf, die meisten waren im Schnitt mehr als 20 Tage dort untergebracht waren. Stolz zeigten sich Heike Hein (Notübernachtung) und AWO-Geschäftsführer Kilian Brauchle, dass es im vergangenen Jahr gelungen sei, 64 Personen in Wohnraum zu vermitteln. Ebenso war die Arbeit der Fachstelle NAWO (Netzwerk ambulante Wohnungssicherung) erfolgreich: »Dank ihr konnte bei 62,7 Prozent der betreuten Haushalte Wohnungslosigkeit und eine ordnungspolizeiliche Unterbringung erfolgreich verhindert werden.«
Es ist eine aufreibende Arbeit, die Sozialamt und AWO leisten und nicht immer gibt es ein Happy-End. Auch in Reutlingen gibt es Menschen, die komplett auf der Straße leben und die jedes Hilfsangebot ablehnen. Darunter Fälle von psychisch Kranken, die oft durch jedes Raster fallen. »Oft sind sie zu gesund für die Psychiatrie, aber zu krank für ein normales Leben«, weiß Brauchle. Und er bestätigte, dass es auch der AWO an Ressourcen fehle, um sich ausreichend um sie zu kümmern. Wohnen, betonen die AWO-Mitarbeiter, sei ein Grundrecht. Allerdings eines, das manchem nicht zuteil wird. »Die Zahlen sind erschreckend für so ein reiches Land«, betont Hein. (GEA)

