REUTLINGEN. Was er sich als Junge nicht leisten konnte, hält der Mann Holger Brunke begeistert in den Händen: Topsy, das legendäre Motorflugzeugmodell von Graupner aus den 60er-Jahren. Von Kindesbeinen an sind kleine Flieger, die man sich selbst bauen kann, die Welt des Reutlingers. Viele Jahrzehnte hat er zunächst in der Albstraße sowie später in der Inneren Kelterstraße beim Hallenbad einen Laden namens »Gewalt Modellbau« betrieben. Das Geschäft steht jetzt leer, aber seine Geschichte geht weiter.
Keine zehn Autominuten vom alten Standort entfernt öffnet sich in einer ehemaligen Fabrikhalle an der Pfullinger Römerstraße 94 die Tür zu einem Schlaraffenland für Modellbauer. Es riecht nach Eau de Spannlack, Klebstoff und Balsaholz. Neben Pappschachteln mit Bausätzen stehen lange Reihen von Farbdosen in Regalen. An der Wand hängen Propeller aus Holz oder Kunststoff, in gelben und roten Boxen lagern weitere Teile. Im Nebenraum sind allerlei prächtige Flugzeuge in unterschiedlichen Bauzuständen zu sehen – das ist die Werkstatt. Mittendrin steht der 56 Jahre alte Brunke mit einem zufriedenen Gesicht, fliegt wörtlich durch seine Geschichte.

Mit ferngesteuerten Modellflugzeugen hat er im Alter von 13 Jahren angefangen, schon davor allerlei Flieger gebastelt. Es ist die Zeit, als für Jugendliche wie ihn der natürlich nur gedruckte Katalog von Graupner Modellbau aus Kirchheim unter Teck die Lektüre schlechthin ist, »das war die Bibel«. Graupner gehörte neben Simprop, Robbe Modellsport, Aero-naut und Multiplex zu den »großen Fünf«, die den RC-Modellbau (Remote Control, ferngesteuert) in Deutschland populär machen. Brunke blättert sich einst durch lauter Träume in Schachteln mit klingenden Flugzeugnamen wie »Cirrus« oder »Amigo«. Manche dieser Bausätze werden heute für teuer Geld gehandelt, oder aber von Enthusiasten aufwendig nachgebaut. In dieser Szene wird er groß, landet beruflich aber erstmal bei der Deutschen Post.
»Uwe Gewalt hat Modellbau gelebt – und ich auch«
Als Fernmeldehandwerker arbeitet Holger Brunke bis 1993 im Reutlinger Fernmeldeamt. Nebenbei lernt er mit Uwe Gewalt einen Menschen schätzen, dessen Namen bis in die Gegenwart viele Modellflieger kennen. Denn Gewalts Reutlinger Laden ist die Anlaufstelle für jeden, der irgendeinen Bausatz oder Bauteil benötigt. Drei Jahre lang arbeitet er als Angestellter in diesem Geschäft, wobei mehr als nur eine Geschäftsbeziehung entsteht. "Uwe war ein begeisterter Segelflieger", erinnert sich Brunke, "wir waren auch privat viel zusammen". Schließlich übernimmt er 1996 den "Gewalt Modellbau", wird sein eigener Chef. »Uwe Gewalt hat Modellbau gelebt – und ich auch«, sagt er
Retro Süd im Sommer: Mit alten Modellen fliegen und Spaß haben
Holger Brunke interessiert sich auch »für Modelle meiner Jugendzeit, die damals als junger Mensch aber leider unerreichbar waren«. Auf dem Bild oben ist er mit so einem Schätzchen zu sehen, dem Hochdecker Topsy von Graupner. Heute bekomme man immer wieder gut erhaltene originale Exemplare zum Restaurieren. »Es werden Nachbauten als Frästeile angeboten, oder man baut sich so ein Modell nach Plan selbst«. Bei den Retro-Fans gibt es mittlerweile eine recht große Fangemeinde, die sich jährlich auf verschiedenen Veranstaltungen in ganz Deutschland verteilt zum gemeinsam fliegen und Spaß haben. Als Retro-Modelle werden Konstruktionen zwischen
1960-1990 bezeichnet. Mitte des letzten Jahrzehnts waren die Events überwiegend im Norden. »Das war mir damals zu weit. Daher habe ich mit dem Vorstand der Flugmodell Sport Club Reutlingen (FMSC) gesprochen und gefragt, ob Interesse an so einer Veranstaltung im Verein wäre«, erinnert sich Brunke, »danach habe ich 2019 die erste Retro Süd ins Leben gerufen. Das war sofort ein voller Erfolg und wurde dann jährlich Ende der Schulferien wiederholt«.
In diesem Jahr treffen sich die Retro-Fans von Freitag, 30. August, bis Montag, 1. September, auf dem Fluggelände des FMSC Reutlingen zwischen Ohmenhausen und Reutlingen. Eine detaillierte Karte gibt's auf der Homepage des Vereins.
Um den schnellen Euro sei es ihm nie gegangen. »Von den Sachen, die ich habe, bin ich überzeugt. Die funktionieren, mit denen kann man Spaß haben«, erklärt er sein Sortiment aus etlichen tausend Artikeln. Doch von Luft und Liebe kann selbst ein Überzeugungstäter nicht leben.
»Der kleine Einzelhandel tut sich immer schwerer«, beginnt Brunke die Abschiedsgeschichte vom »Gewalt Modellbau« beim Hallenbad, »man sieht ja den Leerstand in Reutlingen«. Die Einschränkungen der Coronazeit treffen ihm wie andere schwer, »und danach hat sich das Geschäft einfach nicht mehr erholt. Während der Pandemie durften die Leute nicht in Läden. Also lernten sie, wie man im Netz einkauft – und kamen danach nicht wieder zurück«. Glücklicherweise eröffnet sich für ihn im April 2021 die Gelegenheit vormittags bei einem sehr passenden Unternehmen zu arbeiten. Die Reutlinger Aero-naut Modellbau GmbH stellt ihn ein. Das Geschäft betreibt er weiter, wird aber zunehmend von den Umständen in Richtung Notlandung gezwungen. Es ist mehr als nur dieses Internet, was ihm das Leben schwer macht.
»Händler haben in der Europäischen Union hohe Hürden zu nehmen, bevor sie Waren aus Nicht-EU-Ländern einführen dürfen«, sagt Brunke. Wenn er beispielsweise einen Akku aus China bestellen würde, müsse er für die Sicherheit haften. Kann er aber keinesfalls, also lässt er’s bleiben. Der Privatmann könne dagegen unbeschwert die billige Batterie mit einem Klick am Bildschirm ordern, und wenn’s dann nachher im Betrieb abfackelt, interessiere das niemanden. Schließlich spiele auch die allgemeine Wirtschaftslage eine Rolle.
Selbst ein kleiner Einsteiger-Segler ohne Schnickschnack kommt auf mindestens 30 Euro. Ein großer Flieger mit zwei Metern Spannweite und Fernsteuerung kostet schon 300 Euro. »Ich verkaufe absolute Luxusartikel. Zeug, was kein Mensch zum Leben braucht«, stellt Brunke fest. Dabei sei »Modellbau ein brutal vielschichtiges Hobby. Ich sollte mich mit Holz, Metall, Elektronik, Aerodynamik, Verklebungen und Lackierungen auskennen«, beschreibt er die Hintergründe für sein kapitalintensives Lager. Deswegen entschließt er sich im vergangenen Jahr die Konsequenzen zu ziehen.
Nach gut 30 Jahren schließt er den »Gewalt Modellbau« in Reutlingen, arbeitet Vollzeit bei Aero-naut. Als er darüber seine Stammkundschaft informiert, erntet er tiefste Trauer bis hin zu verzweifelten Fragen: Wo soll sich die Modellbauszene in der Region jetzt versorgen? Immerhin ist Brunke als Mitglied in mehreren Vereinen ein wesentlicher Teil davon. Die Lösung ist sein ehemaliges Lager.
Seit März öffnet der »Gewalt Modellbau« jetzt an der Römerstraße 94 etwas versteckt zweimal wöchentlich seine Tür. Donnerstags von 18 Uhr bis 20 Uhr und Freitags von 17 Uhr bis 19 Uhr. Die Umräumarbeiten sind noch nicht ganz abgeschlossen, die zukünftige Werkstatt sieht wie eine Baustelle aus – aber es geht weiter. Mittendrin steht ein Ladeninhaber, der zwischendurch mal Urlaub machen möchte. »Ich will unbedingt nach Griechenland ans Meer«. Keine Ferien auf dem Flugplatz? Nun ja, »ein kleiner Flieger ist schon dabei«. (GEA)