REUTLINGEN. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch«, rief Matteo Scacciante als DGB-Kreisvorsitzender und erster Redner am 1. Mai, dem »Tag der Arbeit«, den Zuhörern auf dem Reutlinger Marktplatz entgegen. »Dieser Ruf ist 170 Jahre alt und aktueller denn je.« Die Gewerkschaften stellten den Menschen in den Mittelpunkt – »egal, woher sie kommen, woran sie glauben, welche Hautfarbe oder welche Gesinnung sie haben«, so Scacciante an diesem sonnigen, strahlenden, auf dem Marktplatz kaum auszuhaltenden Feiertag.
Viele der Zuhörer waren in den Schatten geflüchtet – nur die SPD-Vertreter nicht. »Wir sind Leiden gewöhnt«, erklärte Sebastian Weigle schmunzelnd. Doch zurück zu den Reden: Murat Yilmaz vom »Arbeitskreis für Kulturelle Vielfalt« sprach den Rassismus in der Gesellschaft und besonders vor den Bundestagswahlen an: »Eine Welle von Schuldzuweisungen ging mal wieder in Richtung der Migranten.«
Rassismuserfahrungen bei Wohnungs- und Jobsuche
Die Zugezogenen, die vermeintlich Fremden seien einmal mehr schuld an allem. Hinzu komme, dass Rassismus sich eben auch äußere, wenn jemand ganz einfach den falschen Namen trägt – und genau deshalb eine Wohnung oder einen Job nicht erhält. »Unsere Gesellschaft darf sich nicht spalten lassen«, forderte Yilmaz. Und rief lauthals dem Publikum entgegen: »Nein zu Populismus, Nein zu strukturellem Rassismus!«
Der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck sprach in seiner Rede auch das beschlossene Finanzpaket der kommenden Bundesregierung an: »Das Paket kann den Kommunen helfen – aber die Gelder müssen tatsächlich auch ankommen«, sagte der OB. Die Gemeinden und Städte bräuchten »eine verlässliche Planungsgrundlage – man darf gespannt sein«. Kecks Zweifel daran, ob das wirklich funktioniert, waren deutlich herauszuhören.
Doch der Oberbürgermeister ging noch weiter, forderte dazu auf, sich für das Land und für die Gesellschaft einzusetzen: »Wer in einer Demokratie leben will, der muss sich um sie bemühen.« Wie schnell ein Staat kippen kann, sei an den USA abzulesen, wo »eine faschistoide Regierung Trump zutiefst rassistisch« agiere. »Doch auch bei uns müssen wir genau hinsehen, nicht alle, die hier für Demokratie auf die Straße gehen, haben ein gesellschaftliches Zusammenleben in Frieden und Freiheit im Sinn – für sie zählt in Wahrheit nur die eigene Freiheit, nicht die der anderen«, mahnte Thomas Keck.
Hülsken warnt: Trumps Regierung steht für reale Bedrohungen
Hauptrednerin an diesem 1. Mai auf dem Reutlinger Marktplatz unter dem Motto »Mach dich stark mit uns« war Claudia Hülsken. Sie ging in ihrem Rückblick auf das vergangene Jahr ebenfalls auf die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika ein: Mit der Wahl von Donald Trump sei keine Satire ins Amt gekommen, sondern reale Bedrohungen – wie etwa das Vorhaben des Präsidenten, Grönland zu annektieren.
Die Abschaffung des US-Bildungsministeriums und ein »Zoll-Roulette« mit der ganzen Welt seien pure Realität. »Und gerade die Zollpolitik könnte uns in Baden-Württemberg als exportstarke Region teuer zu stehen kommen.« Weitere Bedrohungen seien: die Kriege in der Welt, eine »angespannte Weltwirtschaft, eine stockende E-Mobilität und Innovationsstau auf Seiten vieler deutscher Unternehmen«, sagte Hülsken.
Die wirtschaftliche Krise zeige sich auch in der Region: Immer mehr kleine und mittlere Betriebe gerieten ins Straucheln. Auftragsflauten führen zu Insolvenzen und Werksschließungen. Das beste Beispiel: Die Strickmaschinenfabrik Stoll in Reutlingen. Thomas Bayer sagte als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender: »Die Verhandlungen mit der Karl Mayer Gruppe laufen noch, die Voraussetzungen sind aber ganz schwierig.« Ob sich ein Käufer, ein Investor für Stoll in Reutlingen findet? »Das muss sich zeigen«, erklärte Bayer.
Die Aussichten sind andernorts ebenfalls nicht rosig: »Leider stehen derzeit hunderte Arbeitsplätze in unserer Region auf der Kippe«, bedauerte Claudia Hülsken. Aber: »Die Industrie ist das Herz unserer Wirtschaft, sie ist ein Grundpfeiler unseres Wohlstands.« Ohne eine starke Industrie gebe es keine starken und lebenswerten Regionen, sagte die Gewerkschafterin.
Positive Ansätze der neuen Bundesregierung
»Ohne starke Regionen keine sicheren Arbeitsplätze und ohne sichere Arbeitsplätze keine Zukunft«, rief die Erste Bevollmächtigte der IG Metall Reutlingen-Tübingen. Im Koalitionsvertrag der kommenden Bundesregierung sah Hülsken einige positive Ansätze, wie günstiger Strom für die Industrie, Entlastung der Beschäftigten, Ausbau von Infrastruktur, Maßnahmen gegen überteuerte Mieten, mehr Mitbestimmung und Tariftreue sowie Stabilisierung des Rentenniveaus.
»Aber: Wo Licht ist, ist auch Schatten«, sagte Claudia Hülsken. Die geplante Abschaffung der täglichen Höchstarbeitszeit sowie wöchentliche statt tägliche Zeiterfassung – beides sei mit den Gewerkschaften nicht zu machen. »Möglich wären dann gesetzlich zulässige 13-Stunden-Tage.«
Das Fazit der Gewerkschaftschefin: »Die Arbeitgeber-Lobby greift in die neoliberale Mottenkiste.« Mit Behauptungen wie: Die Beschäftigten seien zu krank, zu faul, zu unflexibel werde die Lohnfortzahlung infrage gestellt. Zu alledem »sagen wir entschlossen: Nein«, so die IG Metall-Chefin in der Region. »Ja, die Zeiten sind herausfordernd – aber aufgeben? Niemals«, schloss Claudia Hülsken. Für die musikalische Unterhaltung sorgte nach den Reden die rockig-poppige Cover-Band »Squeezed«. (GEA)
Mai-Kundgebung in Tübingen
Auch in Tübingen wurde am 1. Mai auf dem Marktplatz der gesetzliche Feiertag begangen. Dort sprach die GEW-Landesvorsitzende Monika Stein. Ihre Forderungen lauteten: »Solidarisch gestalten wir unsere offene Gesellschaft, solidarisch begegnen wir dem Klimawandel, solidarisch bewältigen wir die Folgen des schrecklichen innereuropäischen Angriffskriegs.« Auch sie wandte sich gegen Rassismus, »gegen rechtsradikale, faschistische und rechtspopulistische Hetzer«. (nol)