REUTLINGEN/TÜBINGEN. Zunehmende Polarisierung, mehr Härte und Konfrontationen, erschwerte Debatten - so erlebt Sonja Fritze den aktuellen Bundestagswahlkampf. Die Reutlingerin ist für Volt unterwegs, eine kleine, europafreundliche Partei, die noch gar nicht im Bundestag vertreten ist. Seit 2024 aber im EU-Parlament. Selbst deren »hochengagierte« Ehrenamtliche wurden während des Plakatierens und Unterschriftensammelns zuletzt angegriffen, weshalb sie nur noch in Teams rausgehen. »Das Gefühl ist manchmal mulmig.« Ähnliches berichten andere Wahlhelfer. Wie nehmen die Parteien, die bereits über die deutsche Politik mitbestimmen, die Stimmung wahr?
CDU
Gabriele Gaiser berichtet für den Stadtverband der CDU von »ernsten Vorkommnissen, die uns allen Sorge machen«. Die gingen inzwischen weit über die zuletzt thematisierten Sachbeschädigungen an Plakaten hinaus. Von Beleidigungen, Drohungen, persönlichen Angriffen - auch mit Waffe - ist die Rede. »Jeder Einzelne ist sehr stark belastet.« Sie spricht von einer »Bedrohungslage«, die dazu führe, »dass man sich jedes Wort überlegt«. Ergo: »Wir können so nicht weiterarbeiten.« Denn häufig brauchen die CDU-Wahlkämpfer bei Wahlkampfaktivitäten nun die Polizei.
Auch beim Neujahrsempfang war die in ungewöhnlicher Stärke präsent. Das gelte nicht erst, aber verstärkt seit Friedrich Merz' Entschließungsantrag zur Migrationspolitik. Die seit 25 Jahren für die bürgerlich-konservative Partei aktive Kommunalpolitikerin spricht von einer »neuen Dimension« an Aggressivität. »Wir vertreten verbal unsere Meinung und respektieren auch andere Meinungen, dies sollte für Demokraten selbstverständlich sein. Es darf aufgrund anderer Meinungen doch nie zu Übergriffen kommen.«
Bündnis 90/Die Grünen
Da in diesem verkürzten Wahlkampf bei Plakatieraktionen schon Mitglieder beschimpft wurden, halten auch die Grünen ihre Helfer an, »dies auf keinen Fall allein zu tun«, berichtet Leoni Neubauer. Den Großteil der Plakate lassen Bündnis 90/Die Grünen durch einen professionellen Plakatierer aufhängen. Nur stellenweise plakatiere man selbst nach. Bundestagskandidat Jaron Immer erlebte aber ebenfalls bereits »Vorfälle, die mich mitnehmen«, gesteht er. Im vergangenen Jahr habe das zugenommen. »Die trauen sich mehr.« Hassnachrichten auf Social Media, entsprechende Kleber am Auto - »aber ich will keine Angst haben«, sagt der 19-jährige Reutlinger. Wie seine Wahlkampfmanagerin ist er überzeugt, »dass der Hass und die Gewalt in diesem Wahlkampf von einer kleinen Minderheit ausgehen«. Es helfe ihm, sich das klarzumachen. Die große Mehrheit in diesem Land wolle »einen fairen demokratischen Wettbewerb und möchte, dass wir gemeinsam zu Lösungen kommen«.
AfD
Vorfälle an Infoständen in Pfullingen und Pliezhausen im Januar, wo Mitglieder verbal beleidigt und angespuckt wurden, führt auch Maximilian Gerner vom AfD-Kreisverband Reutlingen an. Zudem wurden »Flyer aggressiv auf unseren Stand geworfen«. Anfeindungen seien an der Tagesordnung. Als Gegenmaßnahme sind Vertreter der rechtspopulistischen und zum Teil als rechtsradikal eingestuften Partei an Infoständen »stets mit genügend Leuten vertreten« und plakatieren nur in Gruppen. Angezeigt werde nicht alles. »Störungen der politischen Arbeit« listet die AfD jedoch auf ihrer Kreisverbands-Internetseite auf. »Hasstiraden auf Social Media prallen an uns ab und werden ignoriert.«
Gegen andere »Drohkulissen« helfe, dass bei Veranstaltungen die Polizei meist sicherstelle, »dass Störer auf Abstand gehalten werden«. Da solche Vorkommnisse exemplarisch seien »für die aggressive Atmosphäre, der wir im Wahlkampf seit Jahren begegnen«, stellt sich der aktuelle Wahlkampf aus seiner Sicht aber »ruhiger dar als der Kommunal- und Europawahlkampf 2024«. Vorwürfe gegen AfD-Wahlkämpfer gingen auf »Altparteien« und deren »geduldete Helfer aus dem Antifa-Milieu« zurück. »Unlauteres Vorgehen gibt es bei uns nicht.«
Die Linke
Rüdiger Weckmann, Stadt- und Kreisrat der Reutlinger Linken, hat beim Plakatieren mit Bundestagskandidatin Anne Zerr jüngst selbst den Fall einer rüden Verbalattacke erlebt. Seine Nachfrage beim Mitgliedertreffen ergab: »Angriffe auf unsere Kandidatin oder unsere Aktiven im Wahlkampf haben wir keine erlebt« - an den Plakaten wurden bislang 46 Sachbeschädigungen verzeichnet, »ohne die Dunkelziffer«.
FDP
MdB Pascal Kober, Arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, teilt mit: »An unseren Infoständen gab es keine Fälle von Beleidigungen oder gar Angriffen.« Die Gewalt beschränke sich auf Beschädigung und Zerstörung von Wahlplakaten. Eine Veränderung gegenüber vorherigen Wahlkämpfen stellten seine Wahlhelfer nicht fest.
BSW
Jessica Tatti, Vertreterin des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) im aktuellen Bundestag, die erneut kandidiert, teilt mit: »Es gab immer mal wieder blöde Sprüche beim Plakate aufhängen oder am Wahlkampfstand, aber es sind keine gravierenden Dinge bei uns angekommen.«
SPD
»Wir sind froh, dass es bei uns bisher zu keinerlei Angriffen oder Handgreiflichkeiten auf Wahlhelfer gekommen ist«, lässt Ronja Nothofer-Hahn wissen, die Vorsitzende des SPD-Kreisverbands. Stattdessen führen sie und ihre Mitstreiter an den Infoständen »viele gute und informative Gespräche«, bei denen Bürgerinnen und Bürger Themen mitteilen, »die sie in ihrem Alltag bewegen.« Die Sozialdemokraten nehmen bei vielen dankbar »Offenheit und Diskussionsbereitschaft« wahr.
Polizei verzeichnet einen Fall von Körperverletzung
Die Polizei berichtet von einer Anzeige wegen Körperverletzung, bei der sie von einem politisch motivierten Hintergrund ausgeht: Eine für die AfD tätige 35-Jährige sei am 27. Januar abends in der Tübinger Wilhelmstraße von einem Unbekannten beleidigt sowie unvermittelt gegen den Oberschenkel getreten und dadurch leicht verletzt worden. In Reutlingen verzeichnete das Polizeipräsidium bislang keinen tätlichen Angriff im Wahlkampf.
Politischer Diskurs und verbaler Protest gegen einen Stand oder eine Partei und deren Haltung seien grundsätzlich zulässig, betont Behördensprecherin Andrea Kopp. Sind Stände von Parteien angemeldet, zeigt die Polizei "stets entsprechende Präsenz am Marktplatz", um den störungsfreien Ablauf zu gewährleisten. Maßnahmen hängen von verschiedenen Faktoren ab: Wer ist vor Ort, wer trifft da aufeinander, sind Proteste angemeldet oder zu befürchten? Von wem? Sind gewaltbereite Störer zu erwarten? Und: Welche Themen sind wie emotional besetzt? An den vergangenen Samstagen gab es im Bereich Marktplatz und Wilhelmstraße aus polizeilicher Sicht keine erwähnenswerten Vorkommnisse. "Schon allein unsere Präsenz bewirkt viel.
Ganz vereinzelt ermahnt man mal jemanden zur Mäßigung oder wir sprechen einen Platzverweis aus." Sobald sich "eventuell etwas anbahnt", dürfe man die Polizisten ansprechen oder alarmieren. "Bei Straftaten raten wir stets zur Anzeige, egal um welche Straftat es sich handelt, und ob sie face to face oder im Netz passiert." Für Mandatsträger gebe es zur Beratung die Zentrale Ansprechstelle für Amts- und Mandatsträger beim LKA. (GEA)