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Wieso ein Patient eine Nacht auf dem Gang des Reutlinger Klinikums verbringen musste

Ein Patient verbringt eine unvergessliche Nacht auf dem Gang im Reutlinger Klinikum am Steinenberg. Das Management entschuldigt sich, kann aber nicht versprechen, dass eine solche Unterbringung künftig verhindert werden kann. Außergewöhnlich hohe Belegungen sind nicht der Regelfall, sondern saisonale Ausnahmen. Die Krankenhausleitung erklärt, wie es dazu kommt und wie sie versucht, so etwas zu verhindern.

Flurbetten für Notfälle gibt es immer wieder im Klinikum am Steinenberg. Das ist belastend für Patienten, lässt sich aber zum Be
Flurbetten für Notfälle gibt es immer wieder im Klinikum am Steinenberg. Das ist belastend für Patienten, lässt sich aber zum Bedauern von Management und Pflegedirektion gelegentlich nicht vermeiden. Foto: Stephan Zenke
Flurbetten für Notfälle gibt es immer wieder im Klinikum am Steinenberg. Das ist belastend für Patienten, lässt sich aber zum Bedauern von Management und Pflegedirektion gelegentlich nicht vermeiden.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Eine Nacht auf dem Gang des Klinikums am Steinenberg verbringen zu müssen, wünscht sich kein Patient. Doch einem GEA-Leser ist genau das passiert. Zur tragikomischen Geschichte gerät das unvergessliche Erlebnis dadurch, dass ihm ein Glöckchen auf den Nachttisch gestellt wurde, damit er sich bemerkbar machen kann. Das Management des Klinikums entschuldigt sich zerknirscht – erklärt, wie Überbelegungen entstehen und was ein Krankenhaus dagegen tun kann.

Für den 77 Jahre alten Mann beginnt das neue Jahr schlecht. Der Herzpatient verspürt mitten in der Nacht »ein gewisses Engegefühl in der Brust«, wie seine Frau erzählt. Ihr Gemahl liegt zum Zeitpunkt des GEA-Anrufes mit Grippe etwas sprachlos darnieder. Zurück zum Jahresanfang: Niemand möchte ein Risiko eingehen, weswegen die Familie morgens gegen 2 Uhr den Notarzt zur Hilfe ruft. Rettungssanitäter und Mediziner sind zügig vor Ort. »Die haben gleich ein EKG geschrieben. Um auf Nummer sicher zu gehen, hat der Notarzt entschieden, meinen Mann mitzunehmen«, erinnert sich die Frau. Zum besseren Verständnis der Umstände ist es wesentlich, die Jahreszeit und das besondere Datum im Hinterkopf zu behalten, denn der Herzpatient ist nicht der Einzige, der rund um Silvester eingeliefert wird.

»Es sind zu viele Patienten«

In der Notaufnahme des Klinikums am Steinenberg ist in jener Nacht die sprichwörtliche Hölle los. Überall Hilfe suchende Menschen. Der Herzpatient wird an Monitore angeschlossen, die lebenswichtige Werte überwachen, bekommt Infusionen – und wartet. Am kommenden Morgen besuchen ihn Frau und Tochter. Dabei fällt beiden auf, dass der Senior seit Stunden noch nicht mal etwas zu trinken bekommen hat. Von einem Frühstück ganz zu schweigen.

»Die diensthabende Ärztin war sehr nett und wollte meinen Mann zur Beobachtung noch eine Nacht behalten«, sagt die Frau. Aber bis er schließlich den Weg auf eine der Stationen am Steinenberg findet, verstreichen viele weitere Stunden. So gegen 14.30 Uhr, erinnern sich Gattin und Tochter, erreicht der Herzkranke schließlich seine endgültige Parkposition: allerdings nicht in einem Zimmer, sondern auf dem Gang. Ein Schicksal, mit dem er an diesem Tag nicht alleine ist. Überall auf der Station habe sie viel zu viele Patienten gesehen, erinnert sich die Frau.

Nur eine Stoffwand schirmt das Bett des Mannes von einer Seite vor den Blicken des Durchgangsverkehrs ab. Neben ihm auf dem Nachttisch steht dieses Glöckchen, damit er sich bemerkbar machen kann. Die Tochter knipst ein Beweisfoto des Arrangements. Ihr Vater findet dennoch irgendwie eine Mütze Schlaf, wird am kommenden Tag nach weiteren Untersuchungen entlassen. Das Glöckchen musste er nicht benutzen. Was bei der Familie bleibt, ist es ungutes Gefühl über die Zustände im Klinikum.

»Es liegt nicht daran, dass das Personal nicht möchte. Es kann einfach nicht, weil es zu viele Patienten sind«, sagen die Angehörigen, äußern keine Kritik am Engagement von Schwestern oder Ärzten. Die Feststellung ein »krankes Gesundheitswesen« selbst erlebt zu haben, macht indes die Ehefrau nachdenklich.

Aus dem Klinikum am Steinenberg kommt eine umfängliche Entschuldigung in die GEA-Redaktion. »Wir bedauern, dass es für den genannten Patienten zu einer derart belastenden Situation während seines Aufenthalts im Klinikum am Steinenberg gekommen ist. Jeder Mensch, der sich in unsere Obhut begibt, hat ein Anrecht auf Würde, Sicherheit und eine bestmögliche Versorgung«, schreibt Pressesprecher Christian Hirtz.

Wenn Patienten auf dem Flur oder in Räumen untergebracht werden müssten, die nicht an die zentrale Patientenrufanlage angeschlossen sind, »treffen wir besondere Vorsichtsmaßnahmen, um dennoch eine Kommunikation und Sicherheit zu gewährleisten«, so Hirtz. Die Nutzung eines Glöckchens stelle eine pragmatische, wenn auch unkonventionelle Lösung dar. Das Klinikmanagement sei sich bewusst, »dass dies keine ideale Lösung ist, aber sie dient dazu, eine möglichst sichere und verlässliche Versorgung unter diesen außergewöhnlichen Umständen zu gewährleisten«.

»Dies ist keine ideale Lösung«

Die Versorgung aller Patienten habe im Klinikum am Steinenberg oberste Priorität, »und wir setzen täglich alles daran, selbst unter schwierigen Bedingungen die medizinische Betreuung auf hohem Niveau sicherzustellen. Unsere Teams in der Notaufnahme und auf den Stationen arbeiten dabei mit großem Einsatz, um alle Patienten so schnell wie möglich einer regulären Versorgung zuzuführen«, schreibt der Pressesprecher. Ausdrücklich betont Christian Hirtz, »dass es sich um temporäre Maßnahmen handelt, die durch die außergewöhnlich hohe Belastung bedingt sind. Eine Überbelegung tritt an manchen Tagen auf, ist jedoch nicht der Regelfall«. Doch was ist Überbelegung eigentlich konkret, wieso tritt sie auf – und was kann ein Krankenhaus dagegen tun? Pflegedirektor Frank Miertsch nimmt sich Zeit für ein ausführliches Gespräch.

Überbelegung bedeutet laut Miertsch, »dass alle Betten, die wir aufgestellt haben, belegt sind«. Gemeint sind die Liegeplätze in Krankenzimmern. Das Klinikum am Steinenberg verfügt derzeit über 465 Betten, in Münsingen werden 95 gezählt. Das Management bekommt den aktuellen Stand der belegten Betten ständig über das Klinische Informationssystem KIS mit. Gesetzliche Vorschriften, die eine Überbelegung untersagen würden, gibt es keine. Stattdessen hat ein Klinikum wie das am Steinenberg eine klare Verpflichtung: »Wir müssen alle Patienten, die ins Haus kommen, behandeln. Wir haben einen Sicherstellungsauftrag«, erklärt der Pflegedirektor. Im Grundsatz ist das Krankenhaus daher machtlos, wenn mehr Menschen medizinische Hilfe benötigen, als es Betten in Zimmern gibt. Das sei allerdings kein Dauerzustand.

»Wir kennen Wellen«, sagt Miertsch, »Überbelegungen sind saisonal abhängige Ereignisse. Das hat nichts mit dem Management zu tun.« Wenn im Herbst und Winter die Zahl grippaler Infektionen zunimmt, wächst der Patientenandrang. Wenn dann noch Glatteis für zahlreiche Stürze oder Unfälle sorgt, herrscht Hochbetrieb. Zu bedenken sei dabei, dass »wir im Klinikum konstant 35 bis 50 Patienten haben, die auf eine Nachbehandlung warten, aber eigentlich keiner stationären Behandlung mehr bedürfen«, beschreibt Miertsch eine weitere Belastung der Kapazitäten. Das können Hochbetagte sein, für die sich noch kein Pflegeheimplatz gefunden hat, oder auch auf ihre Rehabilitation wartende Menschen. Um bestmöglich mit dieser schwierigen Ausgangslage und Belastungsspitzen umzugehen, sei das Management sehr um eine gleichmäßige Auslastung aller Stationen bemüht, sofern das medizinisch möglich ist.

»Wir müssen alle Patienten behandeln«

»Wenn wir absolut am Limit sind, werden auch die Plätze in Privatstationen temporär an Kassenpatienten vergeben«, betont Miertsch. Wer mit seinem Bett ausnahmsweise auf den Gang gestellt wird, kann laut diesen Aussagen sicher sein: Das Haus ist restlos ausgebucht. Niemand möchte diesen Zustand, weswegen der Pflegedirektor von bereits dagegen ergriffenen Maßnahmen berichtet.

»Bis die Ambulantisierung umgesetzt ist, brauchen wir alle Betten und versuchen sogar gegebenenfalls die Kapazität temporär zu erhöhen«, sagt Miertsch. Denn jenseits dessen, das Patientenwohl in den Mittelpunkt zu stellen, habe das Klinikum auch finanziell nichts davon, wenn Kranke im Gang liegen: Es bedeute mehr Personalaufwand und veränderte Prozesse, »ist betriebswirtschaftlich kein Vorteil«.

Es sei gelungen, neue Pflegekräfte zu gewinnen, »um die 70 Vollzeitmitarbeiterinnen«, verrät er. Daher werde das Klinikum versuchen, »neue Betten zu eröffnen«. Auf die Frage, ob Patienten selbst etwas tun könnten, um nicht in einer überbelegten Klinik zu liegen, schüttelt Miertsch den Kopf. Was wolle man machen, wenn’s einem dreckig geht? Dann rufe man den Rettungsdienst oder besuche die Notaufnahme.

»Personalvorgaben flexibler gestalten«

Überbelegung ist bundesweit laut Deutscher Krankenhausgesellschaft (DKG) »regional und jahreszeitabhängig« zu beobachten. »Darüber hinaus kann es jedoch auch zeitweise eine partielle Vollauslastung beziehungsweise Überlastung einzelner Bereiche im Krankenhaus geben, die sich dann auf die Versorgungskapazitäten des gesamten Klinikums auswirken. So hat die Überlastung der Intensivstation oder der OP-Kapazitäten negative Auswirkungen auf praktisch alle Fachabteilungen, selbst wenn diese nicht überbelegt sind«, erklärt Dr. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der DKG.

Auch wenn dazu keine belastbaren bundesweiten Zeitreihen vorliegen, stellt die Krankenhausgesellschaft fest, »dass zahlreiche neue oder verschärfte Personalvorgaben dazu geführt haben, dass die zwar grundsätzlich vorhandenen Versorgungskapazitäten (Betten) praktisch nicht genutzt werden können, da das Personal nicht in der geforderten Anzahl vorhanden ist«. Es komme deshalb häufiger dazu, dass Krankenhäuser bei den Rettungsleitstellen bestimmte Fachabteilungen abmelden müssen, da sie keine weiteren Patienten aufnehmen dürfen. Das sei eine Form von künstlicher Verknappung durch die Überregulierung bei den Personalanforderungen.

Nach aktueller Einschätzung der DKG liegt kein bundesweites Betten-Kapazitätsproblem vor. Wichtig sei, »die bundesweiten Vorgaben (insbesondere Personalvorgaben) flexibler zu gestalten, um eben auf diese regionalen Versorgungsengpässe reagieren zu können«. Strafzahlungen für Krankenhäuser, die Personalvorgaben missachten, weil sie ihrer Versorgungsverpflichtung verantwortungsbewusst nachkommen, »sind in der Praxis nicht vermittelbar, aber leider an der Tagesordnung«. Man müsse sich, schreibt die DKG, auf einen weiter steigenden Fachkräftemangel auch im Gesundheitswesen einstellen. (GEA)