REUTLINGEN. Vom 15. bis 19. Juli vergangenen Jahres war das Reutlinger Albert-Einstein-Gymnasium (AEG) ausnahmsweise mal kein Ort für Unterrichtsstunden und alltäglichen Schulbetrieb, sondern ein ganz eigener Staat: die Demokratische Republik Einstein. Im Rahmen des Projekts »Schule als Staat« hatten die über 1.000 Schüler des Gymnasiums ein eigenes Parlament und 110 unterschiedliche Betriebe, wie Rummelplätze, Cocktailbars oder Kunstfabriken, mit einer fiktiven Währung auf die Beine gestellt. »Ziel war es, den Jugendlichen beizubringen, wie eine Demokratie funktioniert«, erzählte Schulleiter Günter Ernst im Rahmen eines Besuchs der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Barbara Bosch, am Dienstag.
Realitätsnahe Politik
Der ehemaligen Oberbürgermeisterin Reutlingens erklärten die anwesenden Schüler, welche Gedanken sie sich bei dem Entwurf der Verfassung oder Parteiprogramme machen mussten, und wie sie dabei mit Problemen wie Meinungsverschiedenheiten zur Müllentsorgung zu kämpfen hatten. Selbst die einfachsten Beschlüsse hätten so zum Teil einen ganzen Tag gebraucht - eine Erfahrung, die Barbara Bosch nur zu gut kennt: »Das hört sich ja nach absoluter Realität an«, so die Staatsrätin. Der Umgang mit unterschiedlichen Meinungen sei für das Bestehen einer Demokratie jedoch essenziell, betonte Bosch weiter.
Wie fragil die Staatsform bei fehlender Auseinandersetzung und Beteiligung sein kann, bekamen auch Jakob Ziehme und die 34 weiteren Parlamentsmitglieder der einwöchigen Einstein-Republik schnell vor Augen geführt, als sie plötzlich vor einer möglichen Diktatur standen: »Da kam ein Antrag auf, dass drei Personen den Staat leiten und Entscheidungen ohne Abstimmung treffen dürfen.« Ein Vorschlag, der sogar zu Demonstrationen vor dem Parlament führte. »Uns war es wichtig, da nicht immer reinzugrätschen«, erklärte Schulleiter Ernst. Das Projekt sollte nicht laborartig verlaufen, sondern den Klassen die Möglichkeit geben, Fehler zu machen und daraus zu lernen, was Demokratie überhaupt bedeutet.
Weitere Projekte sollen folgen
Da das Konzept »Schule als Staat« für alle Beteiligten mit einem enormen Aufwand verbunden war, könne es zu keiner jährlichen Tradition am Gymnasium werden, so Günter Ernst. Für den Schulleiter gilt es jetzt, »Formate zu entwickeln, die darauf aufbauen.« Dabei sollen auch die Schüler des AEG einbezogen werden - ganz im Sinne der Demokratie. Mit Jugendkonferenzen, in denen die Klassen über Themen wie berufliche Orientierung, Digitalisierung oder Jugendbeteiligung diskutierten, hat die Schule einen ersten Grundstein dafür geschaffen. Eine Idee, die Barbara Bosch an das Bürgerforum rund um die Rückkehr des G9-Systems an Schulen erinnerte: »Wir dürfen die Schüler in solchen Prozessen nicht unterschätzen«, erklärte die ehemalige OB und sprach sich für die Beteiligung der Jugendlichen an zukünftigen Projekten der Schule aus.
»Mit welcher Professionalität und Ernsthaftigkeit die Schüler ihr Staatswesen geleitet haben, hat mich ohnehin vom Können der AEG-Klassen überzeugt«, so Bosch. Den anwesenden Jugendlichen riet sie außerdem, ihre Erfahrungen an Orten wie dem Jugendgemeinderat nach außen zu tragen, denn Demokratie müsse immer wieder aufs Neue gelernt werden, »und man kann nie früh genug damit anfangen.« (GEA)