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Aktuell Bombentage

Wie Reutlinger Kinder das Kriegsende erlebten

Am 20. April 1945 war der Zweite Weltkrieg in Reutlingen zu Ende. Hans Dieter Ankele und Günther Schaupp erinnern sich - an Freiheit, Gemeinsinn, aber auch die Grauen jener Tage.

Kind sein im Krieg: Eine Frau geht mit zwei Buben an einem Trümmerfeld an der Ecke Glaserstraße und Obere Gerberstraße im Reutli
Kind sein im Krieg: Eine Frau geht mit zwei Buben an einem Trümmerfeld an der Ecke Glaserstraße und Obere Gerberstraße im Reutlinger Stadtzentrum vorbei. Dahinter werden die Gebäude Bebenhäuserhofstraße 4-6 und Bärenstraße 4 im Jahr 1945 schon wieder aufgebaut. Foto: Stadtarchiv Reutlingen/Sammlung Dohm, 0179 Nr. 17
Kind sein im Krieg: Eine Frau geht mit zwei Buben an einem Trümmerfeld an der Ecke Glaserstraße und Obere Gerberstraße im Reutlinger Stadtzentrum vorbei. Dahinter werden die Gebäude Bebenhäuserhofstraße 4-6 und Bärenstraße 4 im Jahr 1945 schon wieder aufgebaut.
Foto: Stadtarchiv Reutlingen/Sammlung Dohm, 0179 Nr. 17

REUTLINGEN. »Wir sind eine Riesen-Clique über drei, vier Jahrgänge hinweg gewesen, bestimmt 10 bis 15 Kinder, alle aus derselben Straße«, erinnert sich Günther Schaupp. Sein Freund Hans Dieter Ankele wohnte in der Horst-Wessel-Straße 6. Fritz Hüglin, der »leider nicht mehr lebt«, in der Hausnummer 8. Schaupps in Nummer 12 - drei Buben, alle geboren im April 1938, in drei nebeneinanderliegenden Häusern. »Dass es eine Unmenge Kinder gab, war das Schöne«, blickt Ankele zurück. »Wir waren immer auf der Gass'. Nicht nur tagsüber. Das gibts heutzutage nicht mehr, es war herrlich.« Wer eine HJ-Uniform oder ein Fahrtenmesser hatte, war der König, wenn sie ihr Revier am Georgenberg »gegen die Pfullinger« verteidigt haben.

»Es hat halt sonst nichts gegeben«, fügt Schaupp hinzu. »Wir mussten uns selber beschäftigen, waren frei, selbstständig«, erzählt Ankele. So auch im Frühjahr 1945, als in Reutlingen Bombardierungen der Alliierten große Schäden angerichtet und zahlreiche Menschen getötet haben.

Beim Spielen zwischen der Paul-Pfizer- und Alteburgstraße - Völkerball, Fangerle oder Treiberles mit einem aus Stoff-, Gummi- oder Lederflicken zusammengenähten Ball - ist mal »ganz niedrig über uns ein deutscher Jagdbomber hinweggeflogen«, berichtet Dieter Ankele. Darin saß ein Wehrmachtssoldat, dessen Frau im Krankenhaus im Wochenbett lag. Über ihrer Straße habe der wohl zum Gruß mit den Tragflächen »gewedelt«, sei dann aber mit einem Flügel an der Spitze des Turms der Jahnturnhalle hängen geblieben, woraufhin sich das einmotorige Messerschmitt-Jagdflugzeug des Typs Me 109 drehte. Ein Stück weiter stürzte es ab. Neben der Rennwiese, in den Volkspark hinein. Davon sei in der Zeitung nie zu lesen gewesen. Auch 80 Jahre später erinnern sich beide an »den Mordskrach und das Feuer« beim Aufprall. »Als wir hinkamen, waren schon andere Leute dort.« Jegliche Hilfe kam aber zu spät: Der Pilot war tot.

Was das für ein Geräusch war, wenn da 50 bis 100 viermotorige Bomber über einen hinwegflogen, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, sind sich beide einig. »Wir kucken ja schon ganz groß, wenn irgendwo ein Hubschrauber fliegt«, sagt Ankele.

Fliegeralarm statt Pausenglocke

1944 waren die beiden in die Schule im späteren Spritzenmagazin gekommen. Gleich am ersten Tag bekam er eine Ohrfeige, weil er seine Schiefertafel zu lange abgewischt hat, erzählt Günther Schaupp, der heute in Pfullingen lebt. Zur Bestrafung gaben Lehrer noch »Tatzen«, Schläge mit Weiden- oder Rohrstöcken auf die Handflächen. Doch nachdem ab 19. August 1940 Reutlingen insgesamt 363 »Vollalarme« vor Luftangriffen der alliierten Streitkräfte erlebte, fiel das erste Schuljahr fast komplett aus: »Da waren wir die ganze Zeit im Frankonenbunker.« Die Bombardierungen am 15. Januar, 22. Februar und 1. März sowie Tieffliegerbeschuss am 19. und 20. April 1945 markierten den Höhe- und schließlich Schlusspunkt des Zweiten Weltkriegs in der zu dessen Beginn noch 40.646 Einwohner zählenden Stadt. Durch Bomben und Besatzung kamen in Reutlingen 474 Frauen, Kinder und Männer ums Leben.

Viele Nachbarn gingen beim Alarm lieber ins Freie als in den Keller. Günthers Vater sagte stets, »ihr geht mir nicht ausm Haus, sonst finde ich euch nicht wieder«. Er war als Handwerker »UA«, unabkömmlich, eingestuft und musste da stets zum Einsatz, um Verletzte aus kaputten Häusern zu retten. Ankeles hatten einen Schützengraben am jetzigen Motocrossgelände. »Meine Mutter hat mich aufs Fahrrad gesetzt und ist mit mir dort hinausgefahren.«

Von den Nazis veränderte Straßennamen

Horst-Wessel-Straße? Die gibt es nicht mehr. Sie wurde gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder umbenannt und statt dem Berliner SA-Sturmführer jenem Dichter gewidmet, den sie schon zuvor gewürdigt hatte: Heinrich Heine. Die Hausnummern aber sind gleich geblieben, so lauteten später die Adressen der beiden Zeitzeugen Heinestraße 6 und 12.

Die Nationalsozialisten hatten es eilig, nach der Machtergreifung Straßen, Wege und Plätze in Reutlingen nach Repräsentanten der NS-Bewegung zu benennen. Schon am 18. April 1933 hatte der damalige Reutlinger OB Dr. Haller »auf Antrag des Herrn Polizeisonderkommissars sowie des Herrn Sonderkommissars des Stahlhelms« weitere sechs Umbenennungen »verfügt«. Unter anderem wurde die Planie zur Adolf-Hitler-Straße. Im November 1937 unterzeichnete zudem Bürgermeister Georg Allmendinger die Bestimmung, den Karlsplatz in »Platz der SA« umzubenennen.

Am 1. Juni 1945 wurde in den »Mitteilungen der Militärregierung« die Aufhebung nationalsozialistischer Straßennamen veröffentlicht, mit dem Hinweis: »Die Naziverbrecher, die uns statt eines tausendjährigen Reiches nur Not, Tod und unsagbares Elend gebracht haben« hatten nur ein »kurzes Zwischenspiel«. Die Planie war damit wieder Planie und auch in Betzingen erhielt die Stresemannstraße ihren vorherigen Namen zurück. (dia)

Vor den alliierten Geschwadern flog vornedraus ein kleines Flugzeug, das eine Art Leuchtmunition warf. Die markierte den Ort, wo die nachfolgenden Bomber ihre Luken mit der explosiven Ladung öffnen sollten. Sie flogen so knapp über den Kindern, dass die das Knattern hören konnten und sahen, wie die Klappen aufgingen und an Ketten die Bomben rausfielen. »Über der Gaststätte Ringelbach hat es gerasselt«, sagt Schaupp. »Ich stand mal mit meinem Vater an der Haustür, als über uns einer den Bombenschacht öffnete«, schildert Ankele. »Ich wollte wegrennen, doch mein Vater hielt mich fest und sagte, da brauchst nicht rennen, bei 150 bis 200 Stundenkilometern gehen die Bomben erst über der Innenstadt nieder.«

Dieters Vater war mit etwas über 50 zu alt, um als Soldat eingezogen zu werden. »Er war ein Nazi, das muss man ganz klar sagen. Er hat die Parteikasse der Reutlinger NSDAP geführt. Und wie jeder anständige Nazi hatten wir vorn am Haus eine Fahne gehisst. Nur bei Führers Geburtstag im Jahr des Einmarschs nicht.«

Aufgaben der Familien an der »Heimatfront«

Ankeles Schwester war im Arbeitsdienst in Esslingen. Dienstverpflichtet. Munition- oder Waffenfabrik, das weiß er nicht genau. »Ich dachte immer, sie sei Flakhelferin gewesen, aber das stimmt wohl nicht.« Flakhelferinnen mussten vom Bund deutscher Mädchen aus Munition ans Geschütz der Fliegerabwehr liefern.

Privat fotografieren während und nach den Bombenangriffen war verboten. So gibt es auch von Reutlingen aus jener Zeit kaum Fotos
Privat fotografieren während und nach den Bombenangriffen war verboten. So gibt es auch von Reutlingen aus jener Zeit kaum Fotos, schon gar keine mit Kindern. Auf diesem undatierten Archivbild aus den 1940er-Jahren spielt eine Gruppe Kinder in den Trümmern einer zerstörten Stadt im Deutschland der Nachkriegszeit. Foto: dpa/dpa
Privat fotografieren während und nach den Bombenangriffen war verboten. So gibt es auch von Reutlingen aus jener Zeit kaum Fotos, schon gar keine mit Kindern. Auf diesem undatierten Archivbild aus den 1940er-Jahren spielt eine Gruppe Kinder in den Trümmern einer zerstörten Stadt im Deutschland der Nachkriegszeit.
Foto: dpa/dpa

Seine Mutter war Luftschutzwartin. »Die musste bei Angriffen rauf aufs Dach«, sagt er. Um Ausschau zu halten. Fiel eine Brandbombe ins Haus, die sich nicht entzündete, musste sie die nehmen und wieder hinauswerfen. »Die haben wir haufenweise gefunden«, erzählt Schaupp. »Das waren so sechseckige Stahlstäbe in dieser Größe.« Er breitet die Arme vor dem Brustkorb etwa schulterbreit aus. »Rohrteile«, präzisiert Ankele. »Passiert da nichts, wenn man die in die Hand nahm?«, fragt seine Frau Hannelore Ankele, die 1939 zur Welt kam und in Stuttgart aufgewachsen ist. »Wir Kinder haben mit allem Möglichen gespielt«, erklären die beiden Männer. »Wir haben Pistolen und Handgranaten gefunden«, erzählt Schaupp. Im Wald? »Noi, überall.«

Kriegsgerät als Spielzeug

Auch Kriegsgeräte waren Spielzeuge: Günther Schaupp erinnert sich an einen Nachbarn, der seine Pistole im Garten vergraben hatte. Die fanden sie und probierten sie im Wald aus. Die Munition legten sie ins Feuer - »dass es klepft hod«.

Selbst als die Wilhelmstraße »jessasmäßig« brannte, »war das komischerweise für uns Kinder normal«, sagt Schaupp. Ankele stimmt zu: »Wir haben nichts anderes gekannt.« Ab dem Moment, "als wir ein bisschen was verstanden haben, war Krieg", erklärt der elf Tage jüngere Freund. Warum, wieso, davon hatten sie keine Ahnung. "Wir haben uns einfach an den Erwachsenen orientiert", sagt Ankele. Ein paar reagierten panisch, aber "meine Eltern haben mir Sicherheit gegeben". Schaupp stimmt zu: Es waren halt andere Zeiten.

Dazu gehört, »dass wir in den Trümmern gespielt haben«, sagt Ankele. »Das war interessant und abenteuerlich.« So bauten sie aus Ziegelsteinen der ausgebrannten Jahnturnhalle einen Turm. Als der zusammenbrach, flog ein Backstein Dieter an den Kopf. »Da bin i blutüberströmt heimgelaufen«. »Eure Eltern wussten gar nicht, was Ihr da treibt?«, fragt Schaupps Frau Christel. »Die hatten anderes zu tun als uns zu beaufsichtigen«, sagt Ankele. »Unser ganzes Leben lang haben wir Glück gehabt.«

Günther Schaupp (86) hat die letzten Kriegsmonate als Kind erlebt. Sein Vater konnte mit Hitler »nix anfangen«, sagt er.
Günther Schaupp (86) hat die letzten Kriegsmonate als Kind erlebt. Sein Vater konnte mit Hitler »nix anfangen«, sagt er. Foto: Claudia Reicherter
Günther Schaupp (86) hat die letzten Kriegsmonate als Kind erlebt. Sein Vater konnte mit Hitler »nix anfangen«, sagt er.
Foto: Claudia Reicherter

Eine »schlimme Sache« war jedoch, wie sein Onkel Fritz beim Bombenangriff auf die Obere Wässere und Lindachstraße eine Nacht lang verschüttet im Wasser lag. »Wäre das zehn Zentimeter gestiegen, wäre er versoffen. Erst am andern Morgen konnte er befreit werden, denn dafür brauchte man schweres Gerät, das ging nicht mit bloßen Händen.«

Gefahren und Gräuel

Weiter oben in der Straße lebte eine Familie, die Jehovas Zeugen waren. Die wurden abgeholt und ins KZ gebracht. »Alle, die Hitler nicht reingepasst haben, wurden verfolgt«, sagt Günther Schaupp. Als sie wieder nach Hause kamen, hieß es, siehst, das kann ja gar nicht so schlimm gewesen sein, erzählt Dieter Ankele. Dabei hat er vor etwa zehn Jahren bei einer Reise nach Riga in einer dortigen KZ-Gedenkstätte »Reutlinger Namen, die bei uns in der Straße ganz unten gewohnt haben,« entdeckt.

Die von Bomben stark beschädigte Jahnturnhalle mit ihrem Türmchen und dahinter die Listhalle.
Die von Bomben stark beschädigte Jahnturnhalle mit ihrem Türmchen und dahinter die Listhalle. Foto: Stadtarchiv Reutlingen S 105/5 Dohm Nr. 171/35
Die von Bomben stark beschädigte Jahnturnhalle mit ihrem Türmchen und dahinter die Listhalle.
Foto: Stadtarchiv Reutlingen S 105/5 Dohm Nr. 171/35

Die beiden Söhne seiner Tante und seines Onkels haben beim Russlandfeldzug ihr Leben verloren. Und sein 16 Jahre älterer Bruder war von 1943 bis '47 in den USA und in England in Kriegsgefangenschaft.

Ein Nachbarsmädchen zwischen aufgereihten Leichen

Als der Bahnhofsbunker bombardiert wurde und mit Wasser volllief, suchte er mit seinem Vater nach Onkel und Tante. »Wären sie zuhause geblieben, wäre ihnen nichts passiert.« Aber da der Bunker mit seinen zwei, drei Meter dicken Betondecken als absolut sicher galt, gingen sie beim Alarm dorthin. Nur wenige Menschen weit hinten überlebten, berichtet er. Die Toten lagen am Listdenkmal auf der Seite des Kronprinzen aufgebahrt. »Wir liefen von Rupfensack zu Rupfensack, mein Vater hat jeden gelupft, druntergeschaut, nächster. Bis er sie gefunden hat. Ich hab' beide gesehen. Sie sahen aus, als ob sie schliefen. Nur waren sie eigenartig klein.« Heute weiß er, sie sind durch den Luftdruck gestorben, der ihnen die Lungen zerriss.

In der Horst-Wessel-Straße 10 lebte in der unteren Wohnung eine Familie mit einem Mädchen, »die war in unserem Alter«, berichtet Dieter Ankele. Sie lag bei den Leichen, da man sie für tot hielt, wachte nachts auf und kam irgendwie nach Hause. »Des war am nächschda Dag s'Geschbräch, was dem Mädle bassierd isch.« »Das ist ja eine Wahnsinnsgeschichte!«, findet seine Frau Hanne.

Hans Dieter Ankele (87) berichtet von Lausbubenstreichen während der Kriegszeit. Sein Vater habe bis zuletzt fest an "Hitlers Wu
Hans Dieter Ankele (87) berichtet von Lausbubenstreichen während der Kriegszeit. Sein Vater habe bis zuletzt fest an »Hitlers Wunderwaffe« geglaubt. Foto: Claudia Reicherter
Hans Dieter Ankele (87) berichtet von Lausbubenstreichen während der Kriegszeit. Sein Vater habe bis zuletzt fest an »Hitlers Wunderwaffe« geglaubt.
Foto: Claudia Reicherter

Nach den Bombern kamen »die Jabos«, Jagdbomber, die mit Maschinengewehren auf flüchtende Menschen schossen. Die Besatzung einer solchen Maschine sei bei der Alteburg abgeschossen worden und musste, als die davor abgesprungenen Piloten zu Fuß durch die heutige Heinestraße geführt wurden, »vor der Lynchjustiz geschützt werden«, erinnert sich Ankele.

Zusammenhalt und Solidarität

Positiv hat er in Erinnerung: »Man hat engen Kontakt gepflegt in dieser schlimmen Zeit, nacheinander geschaut. Es gab ja kein Telefon. Mindestens einmal die Woche wurden Verwandte besucht.«

Ankeles versteckten den besten Freund seines Vaters, der als Kommunist per Haftbefehl gesucht wurde. Noch an Weihnachten habe der Ankele senior für verrückt erklärt, da jener überzeugt war, es könne nicht sein, dass ein Mensch - »damit hat er den Führer gemeint« - so lügen und das Volk betrügen kann. »Du wirst sehen, in den nächsten Tagen kommt die Wunderwaffe!« Das war natürlich die Atombombe, an der man gearbeitet hat, erzählt Ankele. »Davon war der felsenfest überzeugt.« Ganz anders Schaupps Vater: »Für den war Hitler nix.«

Der Einmarsch aus Kindersicht

Als er erst 1945 noch zum Volkssturm berufen wurde, hätte er Richtung Gönningen die Panzer aufhalten sollen, sagte aber: »Leut', mir gangad hoim. Des isch doch Quatsch«.

Eines Tages, als sie auf der Straße spielten, kam plötzlich eine Frau mit einem Leiterwägele von der Gustav-Schwab-Straße her die Alteburgstraße rauf ums Eck und schrie, »d'Franzosa kommat!« Die Kinder stürmten mit dieser Neuigkeit zu den Eltern. »Meine Mutter hat mich gleich gepackt und in unser Leiterwägele - ich glaub', damals hat jeder ein Leiterwägele gehabt - ein paar Sachen reingepackt und dann sind wir ab!«, erzählt Ankele. Man wusste ja nicht, was die machen, ob sie schießen. So flohen sie am 20. April auf die Eiferthöhe vor Eningen. »Dort hatten wir auch einen Schützengraben.« Die ganze Familie habe sich dort getroffen und sei zwei, drei Tage geblieben. Bis die Nachricht kam, alle müssten nach Hause. Das erfuhren sie aus abgeworfenen Flugblättern. »Fenster und Türen offenhalten und weiße Fahnen raushängen«, wurde laut Ankele verlangt. »Wenn ein Laden drin ist, zack, wird reingeschossen.«

Prägende Erlebnisse der Kriegserlebnisse

Auf dem Rückweg stand an jeder Kreuzung ein Militärposten, jedes mal wurde der Leiterwagen durchsucht. »Was sie davon brauchen konnten, haben sie genommen. Die haben ja auch nix gehabt.« Wurden Waffen gefunden, drohte die Erschießung, berichtet Schaupp. Ankele hat dabei 20 bis 30 Tote gesehen, einzeln an irgendeinem Hauseck liegend. Ein »paar Wahnsinnige« wollten wahrscheinlich noch einen Gegenangriff machen, mutmaßt Schaupp. »Hitler hat das ja ausgegeben: bis zum letzten Blutstropfen«, erklärt der 86-Jährige. Vom Kammweg aus wurde die ganze Nacht mit Maschinengewehren der Georgenberg beschossen, erzählt Schaupp. »Zwischen unsern Häusern durch.« Weil dort deutsche Soldaten vermutet wurden.

Der letzte Einsatz von Ankeles Vater im Volkssturm bestand darin, mit fünf anderen in Ödenwaldstetten den Gauleiter zu bewachen, der in einer Hütte im Wald Schutz gesucht hatte. »Nach drei Tagen bemerkten sie, dass der gar nicht da war.« Da schlugen sie sich über die Alb nach Hause durch, wo die Besatzung schon begonnen hatte.

Der Schriftsteller Dieter Forte (1935-2019), der als Junge Bombardierungen in Düsseldorf überlebte, schreibt, dass man dabei »nur zufällig dem Tod entrann«, das wussten auch die Kinder: »Das vergisst man nicht mehr. Es bestimmt die Lebensmaßstäbe für den Rest des Lebens.« So war dem heute 87-jährigen Dieter Ankele sein Leben lang wichtig, »dass ich niemandem auf diese Art hörig werde«, wie sein Vater und viele andere dem Nazi-Diktator gegenüber. Günther Schaupp hat Sorge, dass sich Leute, die heute AfD wählen, nicht im Klaren sind, »was sie eigentlich anstellen: Hitler ist genau so an die Macht gekommen«. (GEA)