REUTLINGEN. Im Januar, kurz vor der Bundestagswahl, sorgte CDU-Chef Friedrich Merz dafür, dass ganz Deutschland wieder über einen einzigen Begriff diskutierte: die Brandmauer. Heißt: eine klare und unüberwindbare Abgrenzung aller Parteien zur AfD. Auch im Reutlinger Gemeinderat sitzen mittlerweile fünf AfD-Männer. Immer wieder gibt es scharfe Diskussionen über ihr Verhalten und ihre Meinungen. Der GEA hat im Januar also Oberbürgermeister Thomas Keck für ein Interview zum Umgang mit der AfD angefragt. So kurz vor der Wahl wollte sich Keck diesbezüglich nicht äußern. Nun, nach der Wahl, allerdings gerne.
Ist eine Brandmauer zur AfD richtig?
Da gibt es kein einfaches Ja oder Nein. Man muss es differenziert betrachten. Wenn Menschen demokratisch gewählt wurden, haben sie zunächst mal einen Anspruch auf gleichwertige Behandlung. Die entscheidende Frage für mich ist vielmehr, wie sie sich zu unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen. Nun gibt es eben Teile der AfD, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingeordnet werden. Und da wird es für mich dann schwierig mit der Zusammenarbeit. Das sind Leute, von denen der Verfassungsschutz klar sagt, dass sie die freiheitlich demokratische Grundordnung untergraben wollen. Und mit denen muss ich nicht zusammenarbeiten. Dazwischen ist eine Grauzone …
Und in der befinden wir uns dann beispielsweise im Reutlinger Gemeinderat …
Genau. Ich habe mit den fünf AfD-Politikern in unserem Gemeinderat persönlich kein Problem. Aber es gibt natürlich eine Grenze. So hat sich beispielsweise Herr Schrade nie von Herrn Höcke distanziert. Er hat vielmehr im GEA gesagt, zwischen ihn und Höcke passe kein Blatt Papier. Da wird es schwierig, denn Höcke ist Rechtsextremist.
»Ich habe mit den fünf AfD-Politikern in unserem Gemeinderat persönlich kein Problem«
Brandmauer also ab dem Moment, ab dem die AfD zu erkennen gibt, dass sie nicht mehr auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung steht?
Ja. Ich arbeite nicht mit Verfassungsfeinden zusammen.
Man kann im Gemeinderat aber ja keine Gesinnungsabfrage machen und die AfD-Leute fragen, wie sie zu Höcke stehen. Wie geht man dann konkret damit um?
Pragmatisch. Ich werde situationsbezogen reagieren. Ich glaube, die AfD kann sich nicht über Unkorrektheit meinerseits beklagen. Meine Herausforderung ist, zu erkennen, wann die Grenze erreicht ist. Durch Äußerungen oder durch Verschriftlichung.
Viele Politiker, auch Reutlinger Gemeinderäte, definieren Brandmauer ja so: Wenn die AfD etwas Gutes vorschlägt, stimmen sie dem nicht zu. Sondern stellen denselben Antrag einfach nochmal neu. Tut man damit der Demokratie wirklich einen Gefallen? Oder löst das vielleicht beim Bürger irgendwann einfach nur völliges Unverständnis aus?
Ich glaube, dass wir auf kommunaler Ebene mit so einer Art der Ausgrenzung auf dem Holzweg wären. Weil das eher der AfD in die Karten spielt. Die AfD-Räte sind gewählt – und wenn sie positive Beiträge leisten, muss man das für die Stadtgesellschaft auch mitnehmen.
»Man muss laufend klar machen, dass die Lösungsansätze, die sie aufmachen, überhaupt nichts taugen«
Jetzt haben wir viel über Brandmauer geredet. Aber das hat ja offensichtlich nichts gebracht. Die AfD ist kommunal und im Bund stark wie nie. Warum?
Weil man Parteien wie der AfD inhaltlich begegnen muss. Man muss ihre Positionen durchleuchten, man muss laufend klar machen, dass die Lösungsansätze, die sie aufmachen, überhaupt nichts taugen. Nur so kann man sie enttarnen. Das ist aber schwierig. Denn einfachste, untaugliche Lösungsansätze für komplizierte Themen verfangen leider bei vielen Menschen.
Dann sind wir ja wieder bei der Brandmauer: Macht man es sich damit nicht ein wenig zu einfach? Dann muss man sich ja gar nicht inhaltlich mit der AfD auseinandersetzen.
Das ist richtig. Ja, es ist schwierig, es ist Mühe, es ist Arbeit, sich damit auseinanderzusetzen. Wenn Herr Schrade sagt: »Wir verkaufen jedes Jahr drei Prozent des Wohnungseigentums der GWG an die Mieter, dann haben wir genug Geld in der Stadtkasse.« Dann können wir das schon machen … aber genau einmal. Dann haben wir das Tafelsilber verkauft und keinen wohnungspolitischen Einfluss mehr. Der hohe Wohnungsbestand der GWG wirkt sich ja mietpreissenkend aus, weil wir die Mieten deckeln.
»Beide Seiten haben aus meiner Sicht eine Pflicht, gesittet miteinander umzugehen«
Es gibt Gemeinderäte, die sagen, sie würden mit den AfD-Leuten kein Bier trinken. Außerdem geben sie ihnen nicht die Hand und grüßen sie nicht. Ist dieses Verhalten zielführend?
Das werde ich nicht bewerten. Das muss jeder und jede für sich selbst bewerten. Für mich persönlich wäre es kein Weg. Mit Blick auf den Gemeinderat ist klar: Ich kann nicht anordnen »40 Freunde müsst ihr sein«. Aber klar ist eben auch: Dieses Verhalten ist für die Zusammenarbeit im Gremium sicher nicht gut. Das führt zu einer gewissen Polarisierung. Es gibt immer das Gesetz von Ursache und Wirkung, es ist wechselwirksam. Beide Seiten haben aus meiner Sicht eine Pflicht, gesittet miteinander umzugehen.
Sie sind seit April 2019 Oberbürgermeister, davor lange SPD-Stadtrat gewesen. Bei der Kommunalwahl 2019 wurde die AfD zum ersten Mal in den Reutlinger Gemeinderat gewählt. Hat sich das Klima im Rat seitdem verändert?
Ja. Ob es sich jetzt nur durch den Einzug der AfD verändert hat oder durch gesellschaftliche Prozesse, weiß ich nicht. Ich denke, es ist eine Mischung. Der Egoismus hat in dieser Gesellschaft brutal zugenommen. Immer mehr Gremiumsmitglieder akzeptieren demokratisch getroffene Entscheidungen nicht mehr, selbst wenn sie in einer Abstimmung klar unterlegen sind. Klassisches Beispiel bei uns: das Stadthallen-Hotel. Das gab es so früher, in meiner Anfangszeit als Stadtrat, nicht. Generell kann man sagen, dass der Umgang im Gemeinderat rauer geworden ist, man ist weniger höflich zueinander. Das hat bereits Betroffenheit bei einzelnen Fraktionen ausgelöst.
»Generell kann man sagen, dass der Umgang im Gemeinderat rauer geworden ist«
Meinen Sie damit den Fall, bei dem Grünen-Gemeinderätin Eleanor Weber in einer Sitzung in Richtung AfD das Wort Faschisten fallen lies?
Das war jetzt ein aktueller Vorfall. Aber da gibt es viele. Die Gemeinderäte merken auch, dass der Umgang rauer wird.
Nach unseren Informationen gab es wegen diesem Vorfall ein von der CDU initiiertes Gespräch im Rathaus?
Ja, da gab es ein Gespräch. Inhaltlich darf ich dazu nichts sagen. Da haben sich alle Fraktionsvorsitzenden getroffen, unter meiner Gesprächsleitung. Es ging um den Ton bei den Sitzungen, aber auch um Bedrohungslagen, darum, dass sich Mitglieder bedroht fühlen. Das war ein sehr konstruktives, gutes Gespräch.
Hat sich die AfD mal gegen Sie als Oberbürgermeister gewandt?
Ja, die AfD hat sich meinetwegen schon mehrmals ans Regierungspräsidium (RP) gewandt. Beispielsweise nach der großen Demo im Januar 2024. Da war der Vorwurf, ich hätte gegen die Neutralitätspflicht des Oberbürgermeisters verstoßen. Das RP hat dann entschieden, dass ich nicht dagegen verstoßen habe – und ich würde diese Rede auch jederzeit wieder so halten.
» Die AfD hat sich meinetwegen schon mehrmals ans Regierungspräsidium gewandt«
Bei der Gemeinderatssitzung im Februar hatten die AfD-Räte Deutschlandfähnchen vor sich auf dem Tisch stehen. Ist das erlaubt?
Laut Gemeindeordnung dürfen Meinungen grundsätzlich auch nonverbal zum Ausdruck gebracht werden. Das Aufstellen der Flaggen kann jedoch als Störung der Ordnung interpretiert werden. Allerdings ist im konkreten Fall die Eingriffsschwelle nicht erreicht. Ich würde mir wünschen, dass wir uns künftig in den Sitzungen auf kommunale Themen konzentrieren - wie es im Übrigen auch unser Auftrag ist.
Also zusammenfassend: Wie ist Ihr Amtsverständnis im Bezug auf die AfD im Gemeinderat?
Moderierend. Und wenn es gewisse Spielregeln verlässt, wie vorhin erwähnt, dann greife ich ein. Ich meine, man könnte in jeder Sitzung die Dinge auf die Spitze treiben. Aber dann würde man auch nicht mehr viel konstruktiv hinkriegen. Und dann würde ich meinem Auftrag auch nicht gerecht werden. (GEA)