REUTLINGEN. Syrien, die Ukraine oder Afghanistan: Krisen und Kriege, wohin man schaut - zudem ändert sich die Situation fast täglich und mitunter dramatisch. Das hat auch Folgen für die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, und Menschen aus Herkunftsländern, die Schutzstatus genießen. Oft entwickelt das politische Weltgeschehen eine ungemeine Dynamik, was Prognosen kompliziert macht.
Der Reutlinger Sozialamtsleiter Joachim Haas blickte im Verwaltungs-, Kultur- und Sozialausschuss (VKSA) zunächst auf das Jahr 2022 zurück, denn das verdeutlicht, wie schwierig Planungen in der Asylpolitik sind. Die Vorlage zur Situation der Anschlussunterbringung für Flüchtlinge in Reutlingen war gerade fertig geschrieben und bereit zur Präsentation im Ausschuss: Da hatte sich der Sachstand mitsamt Perspektiven binnen eines Tages komplett überholt, die Berechnungen waren das Papier, auf dem sie standen, nicht mehr wert.
Was war passiert? Russland war in die Ukraine einmarschiert, viele Ukrainer ergriffen sofort die Flucht, vor allem Frauen und Kinder. »Diese Flüchtlinge waren schnell da«, sagt Haas, »sie haben Unterkünfte, Geld und Essen gebraucht«. Und das von einem Tag auf den anderen. Die Kommunen, darunter auch die Stadt Reutlingen waren auf solch einen Extremfall »nur bedingt vorbereitet«, so Haas. Aber im Rückblick hält er fest: »Wir haben es hinbekommen.«
Wohnraum wurde generiert
Bereits die Flüchtlingskrise 2015/16 stellte Länder und Gemeinden vor große Herausforderungen - die ebenfalls gemeistert wurden. Nicht zuletzt dank des Engagements der Zivilbevölkerung, die in Asylcafés halfen und die Wohnraum anboten, lobt Haas. So sei es gelungen, fast alle Flüchtlinge, die Reutlingen zugewiesen wurden, unterzubringen. Und das ohne Wohnraum vom freien Wohnungsmarkt abzuziehen. Ganz im Gegenteil: »Wir haben Wohnraum generiert«, betont Haas, ohne neu zu bauen oder Container aufzustellen.
Bürger boten brachliegenden Wohnraum an. Größere, leerstehende Gebäude wurden und werden interimsweise zur Flüchtlingsunterkunft. Genannt sei hier beispielsweise die Ypernkaserne, die vor ihrem Umbau zum Stadtquartier zur Anschlussunterbringung für bis zu 120 Menschen wird, oder das ehemalige Briefzentrum in der Eberhardstraße, in das bald bis zu 40 Flüchtlinge ziehen können. »Wir konnten Gebäude erhalten und nutzen«, erklärt Joachim Haas.
Gleichzeitig habe man darauf geachtet, dass sich die Mietpreise nicht erhöht haben, indem man sich an den gängigen Marktpreisen orientiert hat, und die Stadt habe auch keineswegs alles angemietet, was ihr angeboten wurde. Selbst in Zeiten, als viele Menschen Schutz gesucht haben, musste im vergangenen Jahr nur eine Halle belegt werden.
Die Perspektiven für das laufende Jahr sind ebenfalls gut - immer betrachtet unter dem Damoklesschwert, dass nicht irgendwo auf der Welt ein neuer Krisenherd entsteht oder sich die Lage in der Ukraine oder Syrien verschärft und doch mehr Menschen kommen als bisher kalkuliert.
Mehr Frauen und Kinder auf der Flucht
Carolin Hankiewicz, Abteilungsleiterin Unterbringung und Betreuung von Obdachlosen und Flüchtlingen, stellte die Zahlen bis Ende Januar 2025 vor und gab einen Ausblick für den Rest des Jahres. Aktuell befinden sich 1.788 Menschen in der städtischen Anschlussunterbringung - die meisten sind aus der Ukraine (854), gefolgt von Syrien (305) und Afghanistan (204).
Die Geschlechterverteilung habe sich dadurch ebenfalls massiv verändert: Waren es bis vor ein paar Jahren noch mehrheitlich allein reisende jüngere Männer, sind es seit dem Ukrainekrieg fast genau so viele Frauen in der Anschlussunterbringung. Auch die Zahl der Familienverbände ging nach oben - sie stieg auf 1.399 Personen, 623 davon sind Kinder oder Jugendliche. 1.556 haben eine Aufenthaltserlaubnis, 166 eine Gestattung, und 62 sind geduldet.
Für das laufende Jahr rechnet Carolin Hankiewicz mit rund 550 Menschen, die von der vorläufigen Unterbringung, für die der Landkreis zuständig ist, in die städtische Anschlussunterbringung wechseln - Plätze für sie sind vorhanden.
Die Herausforderungen in den Gemeinschaftsunterkünften seien groß, berichtete Carolin Hankiewicz dem Gremium. So sei die Alkoholsucht oft ein Problem, vor allem bei Flüchtlingen aus der Ukraine, was dann oft zu häuslicher Gewalt bis hin zu Totalausfällen oder der Kindeswohlgefährdung führen könne. Auch die psychischen Erkrankungen nehmen zu, die Ursachen dafür liegen in traumatischen Kriegserlebnisse, dem Verlust von Heimat und Angehörigen, aber auch der belastenden Situation in der Unterkunft. »Das können wir nicht handeln«, betont Hankiewicz, sie seien zuständig für die Unterbringung, eigentlich bräuchte es hierfür psychiatrische Betreuung.
Engpässe in der Infrastruktur
Wobei sie gleich das nächste Problem ansprach: »Engpässe in der Infrastruktur«. Oft fehlt es an Schul- und Kindergartenplätzen, aber auch viele Ärzte können keine neuen Patienten aufnehmen. »Das liegt aber nicht an den Flüchtlingen«, betonte Haas, diese Probleme bestehen schon länger und verschärfen sich.
Doch es gab auch Positives zu vermelden, etwa in puncto Integration. »452 Syrer haben die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, das ist eine gute Nachricht«, so Haas. Erster Bürgermeister Robert Hahn konnte von einer Beschäftigungsquote von 77 Prozent bei den Syrern berichten. »Das ist ein sehr gutes Ergebnis«, so Hahn, bei Deutschen liegt die Quote bei 82 Prozent. Hahn warnte darum auch vor überstürzten Rückführungen. »Wir sollten nicht die abschieben, die arbeiten und greifbar sind, sondern genau schauen, wen wir rückführen. Wir sollten andere Strategien entwickeln.« Rückkehrer in die Heimat gibt es aktuell vor allem unter den Ukrainern, die Syrer warten eher noch ab, wie sich die Lage weiter entwickelt.
Für die Arbeit des Sozialamts und der Abteilung Unterbringung und Betreuung von Obdachlosen und Flüchtlingen gab es einhellig Lob von allen Fraktionen, sowohl, weil es gelingt, die Flüchtlinge unterzubringen, aber auch, so Cathy Hammer (Grüne), weil man merke, dass sie »den einzelnen Menschen im Blick haben«. (GEA)