REUTLINGEN. Clarissa Knittel kam drei Monate zu früh auf die Welt, sie erlitt aufgrund von Sauerstoffmangel eine »infantile Zerebralparese«. Was das bedeutet? »Bei mir sind Teile im Gehirn kaputt, die für die Bewegung zuständig sind«, erläutert die 34-Jährige, die in einer KBF-Wohngruppe mit zurzeit sieben anderen Menschen wohnt. Sie benötigt fast bei allem Hilfe, Assistenzbedarf heißt das heute.
Als die Corona-Einschränkungen in Kraft traten »wurde niemand bei uns eingesperrt, es ist mir wichtig, das zu betonen«, sagt Knittel. Und dennoch: »In den vergangenen drei Monaten habe ich mich phasenweise gefühlt wie im Gefängnis – mit zwei Stunden Ausgang am Tag.«
Um Menschen mit Assistenzbedarf zu schützen, sind sie zu großen Teilen zu ihren Eltern nach Hause gegangen – wenn sie zurück in die Wohngruppe wollten, mussten sie 14 Tage in Quarantäne in ihr Zimmer. Oder sie blieben, wie Clarissa Knittel in der Wohngruppe. Beziehungsweise wurden dorthin zurückgeschickt: »Als die Corona-Beschränkungen begannen, war ich seit einer Woche in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, der PP.rt. Ich musste dann zurück in die WG.«
»Wir haben alle darauf geachtet, dass wir uns nicht gegenseitig ’runterziehen«
Die Therapie – Knittel leidet an Depressionen mit psychotischen Schüben – sollte dort ambulant fortgeführt werden. »Nach zwei Wochen hieß es dann aber, dass das Personal der PP.rt nicht mehr kommen darf, wegen der Infektionsrisiken.«
Auch die Physiotherapie – auf die Clarissa Knittel dringend angewiesen ist, um ihre Muskulatur in Bewegung zu halten – wurde mit den Corona-Beschränkungen untersagt. Ihre Betreuer in der WG bewegten ihre Beine, so gut es eben ging. »Ich habe noch einen Heimtrainer für Spastiker erhalten, da sollte ich in meinem Zimmer Übungen machen.«
Das habe sie auch getan, es sei trotzdem etwas völlig anderes gewesen, als wenn sie zur Physiotherapie in die Praxis gehen würde. »Wenn ich meiner Krankengymnastin sage, dass ich Rückenschmerzen habe, dann weiß sie einfach, wo sie hindrücken muss.« Die Schmerzen musste Knittel nun längere Zeit erdulden.
Erschwerend hinzu kam: Wegen der Pandemie-Beschränkungen konnte die 34-Jährige lange nicht ihrer Beschäftigung nachgehen: Die Arbeit im Habila-Buchladen in Orschel-Hagen habe ihr sehr gefehlt. Auch das Ausgehen mit Freundinnen und Freunden vermisste sie. »Das geht jetzt wieder, aber ich hatte während Corona Geburtstag. Mich mit Freunden zu treffen und zu feiern, war nicht möglich.« Eine kleine Fete in der Wohngruppe – das war’s.
»Ich habe mal Nachrichten gesehen, dabei habe ich eine Panikattacke gekriegt«
In den Beirat der Reutlinger Inklusionskonferenz – auf deren Initiative hin es zu diesem Gespräch kam – konnte Clarissa Knittel auch nicht. »Meine Freunde und ich haben dann eine Whatsapp-Gruppe gegründet«, berichtet sie weiter. »Wir haben alle darauf geachtet, dass wir uns nicht gegenseitig runterziehen.«
Wenn es jemand schlechter ging, haben sie das in Einzelchats besprochen. So manches Tief war nicht zuvermeiden: »Ich habe mal Nachrichten gesehen, dabei habe ich eine Panikattacke gekriegt«, sagt Knittel.
»Die Betreuer haben stets versucht, den Bewohnern zu erklären, was gerade passiert«, berichtet Mandy Braunsdorf als Koordinatorin für die Tagesstruktur im KBF-Wohnhaus. Allerdings hätten die Betreuerinnen und Betreuer ja selbst oft nicht verstanden, was gerade mit dem Virus passiert und welche Folgen sich daraus ergeben.
»Manche meiner Mitbewohner, die geistig mehr eingeschränkt sind, konnten nicht verstehen, warum die Betreuer und Pfleger jetzt mit Maske ’rumlaufen und vor allem, warum Verwandte nicht mehr zu Besuch kommen können«, sagt Knittel.
Braunsdorf bestätigt dies ebenso wie die weitgehenden Schwierigkeiten, die Menschen mit Beeinträchtigungen erleiden mussten: »Andere haben sich Gedanken um ihre Frisur gemacht. Clarissa um ihre Psycho- und Physiotherapie.«
Clarissa Knittel ist auf jeden Fall erleichtert, dass "jetzt wieder etwas Normalität eingezogen ist und ich wieder Freunde besuchen kann". Sehr bedauert sie allerdings, dass Großveranstaltungen auch weiter nicht möglich sind: "Ich wäre zu einem Konzert von James Blunt gegangen.
»Nach zwei Wochen hieß es, dass das Personal der PP.rt nicht mehr kommen darf«
Bitter ist auch, dass alle Ohmi-Club-Veranstaltungen abgesagt wurden." Als besonders belastend empfand die junge Frau, "dass ich nicht wusste, wie sich die Situation entwickelt und wann es besser wird". Das können mit Sicherheit die meisten Menschen nachempfinden – "einer alten Frau, die allein im Hochhaus wohnt, geht es wohl noch schlechter", sagt Clarissa Knittel.
Was sie sich persönlich für die Zukunft wünscht? »Ich würde gerne allein selbstständig wohnen.« Die 34-Jährige weiß sehr wohl, dass sie ohne Assistenz nicht leben kann. Aber so eigenständig wie möglich, mit der Unterstützung, die sie braucht – das wäre ein Traum für die junge Frau. (GEA)