REUTLINGEN. Wie sieht’s bei der Belegung aus, wie sind die Prognosen, wie der Bedarf? Anfang Januar hat die Verwaltung die Daten erhoben, jetzt wurde im Verwaltungsausschuss über den aktuellen Sachstand bei der Anschlussunterbringung Geflüchteter berichtet. Der war aber zumindest in einem Punkt durch die Entwicklung der vergangenen vier Wochen überholt: Durch die vielen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die jetzt nach Reutlingen kommen, wird sich der Unterbringungsbedarf drastisch erhöhen. Es wird inzwischen von einer Verdoppelung der Zahlen ausgegangen.
Zum Jahresbeginn lebten 1 000 Menschen in den städtischen Unterkünften der Anschlussunterbringung, davon 708 in 17 Gemeinschaftsunterkünften (ab 20 Personen aufwärts) und 292 in 85 Wohnungen. Die meisten, nämlich 749 Personen, leben mit ihrer Familie zusammen, leben in Familien, die Zahl der jungen Menschen von ganz klein bis hin zum jungen Erwachsenen ist mit 463 hoch. Der überwiegende Teil der Geflüchteten hat einen sicheren Aufenthaltsstatus, nur zehn Prozent nicht: Sie sind geduldet.
68 afghanische Ortskräfte
Bei den Herkunftsländern steht Syrien nach wie vor ganz oben, 380 Menschen (38 Prozent), die in den städtischen Unterkünften leben, kommen von dort. An die zweite Stelle ist Afghanistan gerückt, 196 Menschen (20 Prozent) sind aus dem Land geflohen. Im vergangenen Jahr kamen nach der Machtübernahme der Taliban noch mehr dazu: Über ein Sonderkontingent wurden 68 afghanische Ortskräfte in Reutlingen aufgenommen, 15 weitere in diesem Jahr. Sie wurden der Stadt direkt zugeteilt, also ohne den üblichen Weg über Landeserstaufnahmeeinrichtungen und die vorläufige Unterbringung durch den Landkreis. »Die stehen da«, sagte Sozialamtsleiter Joachim Haas. Die Stadt muss nicht nur die Unterbringung, sondern auch die notwendigen Gesundheitsuntersuchungen, die Leistungsversorgung, Kita- und Schulplätze organisieren.
Bei der Einschätzung für 2022 und die Folgejahre tat sich die Verwaltung schwer, weil es weder vom Land noch vom Bund Zugangsprognosen gab. Nur so viel war klar: Nach einem kontinuierlichen Rückgang geht die Kurve bei den Asylerstanträgen seit 2021 wieder nach oben. Aufgrund des Verteilungsschlüssel und Kriterien wie Familiennachzug, Geburten, Sonderkontingente wie Ortskräfte oder Aufnahmen aus dem Bündnis Sicherer Hafen kalkulierte die Stadt mit einem Zuwachs von 365 Personen, nach Abzug der schon erfüllten Quote und der hohen Fluktuation in den Unterkünften »netto« mit 100 Zugängen. Insgesamt müsste sie bis Jahresende also 1 100 Menschen in den städtischen Unterkünften unterbringen. Das, so Erster Bürgermeister Hahn, wäre gerade noch zu schaffen gewesen. Aber 2023 schon nicht mehr, denn da würde sich nach den Berechnungen eine Lücke von 145 Plätze auftun. Doch inzwischen ist der Krieg in der Ukraine ausgebrochen, die Kalkulationen sind Makulatur. Robert Hahn rechnet mit über tausend Geflüchteten aus der Ukraine, die die Stadt in diesem Jahr aufnehmen muss (der GEA berichtete).
Mehrere Baustellen
Eine Verdoppelung der Prognose also, die die Stadt vor große Herausforderungen stellt. Die Mitarbeiter seien, so Haas, aber schon vorher »extrem belastet« gewesen. Er wies auf mehrere »Baustellen« hin, wie die steigende Zahl Geflüchteter aus anderen Ländern als der Ukraine. Oder die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die »erwachsen« werden, aus dem betreuten Wohnen raus müssen – und plötzlich auf sich gestellt seien. »Die fallen ohne Betreuung gnadenlos auf die Nase.« Dazu die afghanischen Ortskräfte, die schnell versorgt werden müssten. Und natürlich Corona in den Unterkünften. Haas berichtete von bisher 1 470 Fällen. »Ist in der Gemeinschaftsunterkunft einer infiziert, muss das ganze Stockwerk in Quarantäne.« Lebensmittel müssten besorgt, der Impfstatus überprüft und vieles andere mehr organisiert werden. »Da prallt alles zusammen, das stellt die Abteilung vor Riesenaufgaben.«
Haas zählte weitere Probleme auf, unter anderem den Umgang mit Bewohnern, die psychisch auffällig seien oder Suchtprobleme hätten. »Regelsysteme lassen uns im Stich, weil sie mit diesem Klientel nicht umgehen können und sie durchs Raster fallen.« Auch der Auszug aus der Unterkunft in eine privat angemietete Wohnung gestalte sich oft schwieriger als gedacht, sagte Stefan Milles, Leiter der Abteilung Unterbringung und Betreuung von Obdachlosen und Flüchtlingen. »In der Praxis ist das nur eine kurze Freude.« Umgang mit Vermietern, Energielieferanten, Telefongesellschaften, Banken, Verpflichtungen wie die Kehrwoche – viele kämen mit diesen neuen Anforderungen nicht zurecht, es bestehe weiter Betreuungsbedarf. »Wenn wir da nicht helfen, droht der Verlust der Wohnung und die Obdachlosigkeit.« (GEA)