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Wie ein Reutlinger als Junge die Bombardierung Reutlingens erlebte

Der Bruder zog kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs noch in den Kampf - und kam nie zurück.  Der Reutlinger Ewald Wurst erinnert sich an das Jahr 1945 in seiner Heimatstadt und die bitteren Folgen für seine Familie.

Ewald Wurst hat zahlreiche Dokumente aufgehoben und stellt sie im GEA-Leserforum zu den Bombentagen von Reutlingen im Jahr 1945
Ewald Wurst hat zahlreiche Dokumente aufgehoben und stellt sie im GEA-Leserforum zu den Bombentagen von Reutlingen im Jahr 1945 vor. Foto: Frank Pieth
Ewald Wurst hat zahlreiche Dokumente aufgehoben und stellt sie im GEA-Leserforum zu den Bombentagen von Reutlingen im Jahr 1945 vor.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. Geboren am 9. März 1939 - somit war der Reutlinger Ewald Wurst noch keine sechs Jahre alt, als Bomben auf seine Heimatstadt niederprasselten. Aber seine Erinnerungen sind glasklar - bis zu einem gewissen Punkt. Aufgewachsen ist der heute mit seiner Frau im Hohbuch lebende Mann in der Hermann-Kurz-Straße 5, nicht weit vom Westbahnhof. Am 15. Januar 1945 zwischen 12 und 13 Uhr sagte ein dort ebenfalls wohnender Soldat zum andern, »guck mal, da stürzt ein Flieger ab«, erinnert sich der 86-Jährige. Da schaute auch er zur Straße hinaus, sah aber kein Flugzeug, sondern Bomben, die gerade in die Strickwarenfabrik Eugen Schnitzler in der Grathwohlstraße einschlugen.

»Do hod's Schläg' do ond Feuer geba«, erzählt er. Bevor weitere Sprengkörper abgeworfen wurden, habe ihn der Soldat gepackt und vom zweiten Stock durchs Treppenhaus zu seiner Mutter in die Parterrewohnung hinabgetragen. Die hatte schon geläutet gehabt, aber die Klingel hat nicht funktioniert. Der Soldat ging dann wieder hoch. Für alle andern hieß es: »Sofort in den Keller runter!«

Fotos zeigen links die Familie von Ewald Wurst (2. von links) und rechts seinen ältesten Bruder Werner, der sich in den letzten
Fotos zeigen links die Familie von Ewald Wurst (2. von links) und rechts seinen ältesten Bruder Werner, der sich in den letzten Monaten des 2. Weltkriegs noch freiwillig der Wehrmacht anschloss. Foto: Frank Pieth
Fotos zeigen links die Familie von Ewald Wurst (2. von links) und rechts seinen ältesten Bruder Werner, der sich in den letzten Monaten des 2. Weltkriegs noch freiwillig der Wehrmacht anschloss.
Foto: Frank Pieth

Im Haus lebten noch vier oder fünf andere Kinder und ein älterer Mann, der Herr Schmid. Ewalds drei Jahre älterer Bruder Gerhard war auch schon im Keller, strumpfsockig. Dann kam der Bombenhagel. Feuer. »Das Haus wurde voll getroffen«, berichtet er. Die beiden Soldaten gehörten zu den drei Menschen, die an jenem Tag in Wursts Haus starben. Insgesamt soll der Angriff der 8. Luftflotte der amerikanischen Streitkräfte mit 1.400 Spreng- und 6.000 Brandbomben, die aus B 17- und B 24-Bombern auf Reutlingen abgeworfen wurden, 152 Todesopfer gefordert haben.

Im Keller der neben der Karl-, List-, Tübinger-, Gustav-Werner- und Kurrerstraße besonders betroffenen Hermann-Kurz-Straße rief Herr Schmid, »auf, naus, naus!« - woraufhin alle durch ein kleines Fenster in den Hof kletterten. Er werde nie vergessen, wie sie beide heulten, als seine Mutter sagte, sie steige über die Veranda nochmal rein, um für den neunjährigen Gerhard ein Paar Schuhe zu holen. Es war ja tiefster Winter, minus 18 Grad, draußen lag Schnee. Jedoch: »Unmöglich, alles brannte«, entsinnt sich der 86-Jährige.

»Die Mutter wollte in den Wald naus fliehen. Davor haben wir von einer Frau zu trinken bekommen «

Die folgende Flucht schildert er atemlos, mit vielen Details: »Dann sind wir ums Eck zur Druckerei Christian Killinger, die es heute noch gibt, damals im Eckhaus Hohenzollern- und Hermann-Kurz-Straße.« Kaum drin, fing es auch in dessen Papierlager zu brennen an. Wieder hieß es: »Raus! Raus! Also wieder raus.« Dann liefen die Hausbewohner um seine Mutter »die Hohenzollernstraße vollends runter und am Westbahnhof, wo an der heutigen Unterführung damals Schranken über die Gleise führten, hinüber und weiter Richtung Ford Kimmerle. Das weiß ich noch ganz genau, da war die Straße noch nicht so wie jetzt, gell, sondern mit einem Gehweg und einer Allee, schöne Bäume, und unten rechts war das Versorgungsamt. Dort waren Kriegsgefangene, die in die Hände klatschten und sich freuten.« Seine Mutter habe geweint. Erneut ging die Flucht zu Fuß weiter: »Hinüber zum ersten Haus, wo es zum Hohbuch geht auf der linken Seite. Die Frau, die dort lebte, rief meiner Mutter zu, ,Frieda, wo goh'sch 'n no?'« Die Mutter, die Eva hieß, aber Frieda genannt wurde, schrie, »en Wald naus, en Wald naus«. Da lud die Hausbewohnerin sie ein hereinzukommen. »Dort haben wir was zu trinken bekommen«, erzählt Ewald Wurst.

Ewald Wurst erzählt vom letzten Kriegswinter und dem ersten schweren Luftangriff des Jahres 1945 auf Reutlingen.
Ewald Wurst erzählt vom letzten Kriegswinter und dem ersten schweren Luftangriff des Jahres 1945 auf Reutlingen. Foto: Frank Pieth
Ewald Wurst erzählt vom letzten Kriegswinter und dem ersten schweren Luftangriff des Jahres 1945 auf Reutlingen.
Foto: Frank Pieth

Dann ist abrupt Schluss. »Film aus. Ab da weiß ich nichts mehr«, sagt er. Ob sie daraufhin tatsächlich in den Wasenwald hinausrannten? Oder wohin sonst? Daran hat er keine Erinnerung mehr. Er sehe noch vor Augen, wie sie zu jener Frau ins Haus hineingingen und etwas zu trinken erhielten. Was, weiß er nicht mehr, und was danach kam, ebenfalls nicht.

»Mein 17-jähriger Bruder war Feuer und Flamme. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er gegangen ist«

»Ich war ein Nachkömmling«, erklärt Ewald Wurst, dessen Eltern schon viele Jahre vor ihm und seinem Bruder einen ersten Sohn bekommen hatten. Allerdings waren sie damals noch nicht verheiratet, mehrere Jahre hatten sie auf ihre Geburtsurkunden warten müssen. Sein Bruder Werner hat sich an Silvester 1944 mit 17 Jahren freiwillig zur Front gemeldet. »Der war Feuer und Flamme. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er gegangen ist«, sagt der Mann, der damals ein Stöpsel von fünf Jahren war und mit 13 in der Bruderhaus-Maschinenfabrik eine Lehre begann. Die Mutter war skeptischer. Ewald erinnert sich, wie sie mal von einem Soldaten in der Stadt zurechtgewiesen wurde, ihn statt mit »Grüß Gott« mit »Heil Hitler« zu grüßen.

Die Feldpostkarte von Werner Wurst an seine Mutter Eva vom Januar 1945 - mit aufgedruckter Durchhalteparole im Namen des "Führer
Die Feldpostkarte von Werner Wurst an seine Mutter Eva vom Januar 1945 - mit aufgedruckter Durchhalteparole im Namen des »Führers«, Adolf Hitler. Foto: Claudia Reicherter
Die Feldpostkarte von Werner Wurst an seine Mutter Eva vom Januar 1945 - mit aufgedruckter Durchhalteparole im Namen des »Führers«, Adolf Hitler.
Foto: Claudia Reicherter

Er holt eine Feldpostkarte an die Adresse Hermann-Kurz-Straße 5 hervor, Datum: 12. Januar 1945. »Liebe Mutter!«, begann Werner seine Nachricht, drei Tage bevor sein Elternhaus zerstört werden sollte. »Möchte dir kurz ein paar Zeilen zukommen lassen. Bin gut angekommen und habe den Marschbefehl ganz gut überstanden.« Er hoffe, bald am Einsatzort anzukommen. Die Bleistiftbuchstaben in alter deutscher Schrift sind schwer zu entziffern. Er schließt mit »viele Grüße, Dein Werner«.

Ab Februar 1945 galt der am 18. März 1927 Geborene als vermisst. »Das hat meiner Mutter zugesetzt«, sagt Ewald Wurst, »bis zu ihrem Lebensende.« Noch auf dem Totenbett habe sie von ihrem Werner gesprochen, einem sportlichen jungen Mann, den seine Kameraden anhand seiner Initialen »We-We« nannten. Nachforschungen durchs Rote Kreuz ergaben 1974, er sei »mit hoher Wahrscheinlichkeit in Ostpreußen gefallen« - eine Grabstätte gebe es nicht. »Der ist vielleicht schon auf dem Weg, wo sie Richtung Osten zogen, gefallen«, meint Ewald Wurst. Kurz darauf begann bei Warschau der russische Angriff.

Sein Bruder zog an Silvester 1944 noch freiwillig in den Krieg. Ewald Wurst versucht, die letzte Feldpostkarte zu entziffern. Ku
Sein Bruder zog an Silvester 1944 noch freiwillig in den Krieg. Ewald Wurst versucht, die letzte Feldpostkarte zu entziffern. Kurz darauf galt der 17-Jährige als vermisst. Nachforschungen in den 1970er-Jahren durchs Rote Kreuz ergaben keine Grabstätte. Foto: Frank Pieth
Sein Bruder zog an Silvester 1944 noch freiwillig in den Krieg. Ewald Wurst versucht, die letzte Feldpostkarte zu entziffern. Kurz darauf galt der 17-Jährige als vermisst. Nachforschungen in den 1970er-Jahren durchs Rote Kreuz ergaben keine Grabstätte.
Foto: Frank Pieth

Er zeigt Schwarz-Weiß-Fotos: ein Porträtbild von Werner in Wehrmachtsuniform, eins von der Mutter mit ihren drei Buben. Und eines vom Vater im September 1935, als der 33-jährige Polizist vor den erstmals als offizielle Flagge gehissten Hakenkreuz-Fahnen auf dem Reutlinger Marktplatz für die Wehrmacht Geld sammelte. Das Bild wurde später auch in den Reutlinger Geschichtsblättern abgebildet: »Polizeiwachtmeister Albert Wurst« heißt er da. Zum Zeitpunkt der Bombardierungen von Reutlingen war der Vater im Krieg. Als »Spätheimkehrer« wurde er erst am 24. Januar 1949 aus der Gefangenschaft im damaligen Jugoslawien entlassen. »Die Verpflegung und Unterkunft war schlecht«, hielt der Kriegsgefangene später seine Erinnerungen fest.

Erst nach dem Tod des Vaters 1993 hat Ewald Wurst herausgefunden, was dieser alles aufgeschrieben, aufgelistet und aufgehoben hatte: »Der war scho an bissle pingelig«, sagt er und kramt aus einer Schublade Lazarett-Krankenakten hervor. Beim Durchblättern der vergilbten Seiten erinnert sich sein Sohn daran, wie die Familie den Vater bei dessen Rückkehr am Bahnhof abgeholt hat. »Er hat einen Hut aufgehabt und Mantel, ich hab ihn erst gar nicht erkannt.« Bei sich hatte er einen Holzkoffer voller Süßigkeiten und Zigaretten. Der 86-Jährige lächelt. »Da haben sie uns danach das Haus, wo wir dann gewohnt haben, in der Wilhelmstraße am Lindenbrunnen, eingerannt nach den Zigaretten. Meinem Bruder und mir hat er Bombola mitgebracht.«

Dokumente, die an die Zeit der Bombardierung Reutlingens erinnern: ein Passbild von Albert Wurst, ein Foto beim Spendensammeln d
Dokumente, die an die Zeit der Bombardierung Reutlingens erinnern: ein Passbild von Albert Wurst, ein Foto beim Spendensammeln des Polizeiobermeisters auf dem Marktplatz, die niedergeschriebenen Erinnerungen seines jüngsten Sohnes Ewald Wurst und eine Nachricht an die Mutter vom Roten Kreuz. Foto: Claudia Reicherter
Dokumente, die an die Zeit der Bombardierung Reutlingens erinnern: ein Passbild von Albert Wurst, ein Foto beim Spendensammeln des Polizeiobermeisters auf dem Marktplatz, die niedergeschriebenen Erinnerungen seines jüngsten Sohnes Ewald Wurst und eine Nachricht an die Mutter vom Roten Kreuz.
Foto: Claudia Reicherter

Albert Wurst hatte später auch genau aufgelistet, was bei der Bombardierung am 15. Januar 1945 mit dem Haus in der Hermann-Kurz-Straße alles verloren ging: auf der Veranda, der Bühne, im Holz- und Kohlenraum. »Zimmerbüffet zerstört, gepolsterte Stühle, Auszugstisch, Polstersessel, Sofa, Nähtischle, Blumenständer, Radio, Standuhr, Deckenlampe.« Bis hin zum Fußschemel.

Manche Bezeichnungen sind heute nicht mehr geläufig. Stragula? »Das war eine Linoleum-Imitation, mit der der Boden ausgelegt war«, erklärt der Sohn. »Er hat alles aufgeschrieben«, sagt Ewald Wurst und lacht. Kinderbettstelle, Kinderdeckbett mit Kissen und Haipfel, die schwäbische Bezeichnung für ein großes Paradekissen. Rodelschlitten, Schlittschuhe, Ski - und zwei Mostfässer im Keller, samt »eingedünsteter Apfelmost«. Einrichtungsgegenstände, Geräte, bewegliche Gegenstände finden sich in den seitenlangen Listen, die das Familienleben vor 80 Jahren lebendig werden lassen. Aber auch: vier Gasmasken. Die waren damals Pflicht.

»Durch den Fliegerangriff vom 15. Januar ging die gesamte Wohnungseinrichtung verloren«

Die Stadtsparkasse in der Bismarckstraße stellte im April 1953 für die »unmittelbar Geschädigten« einen »Teilbescheid über Hausrathilfe« aus. Als »Kriegsachschaden« war festgestellt worden, dass mindestens 50 Prozent des Hausrats vernichtet waren. »Durch den Fliegerangriff vom 15. Januar ging die gesamte Wohnungseinrichtung verloren.« Dafür gab es 450 Mark - und für zwei Kinder noch 100 Mark dazu. Nach einer ersten Rate von 220 Mark, die bereits 1951 bezahlt wurde, sollten schließlich 700 Mark insgesamt zuerkannt werden.

Zeitzeuge Ewald Wurst aus dem Hohbuch berichtet von seinen Kindheitserinnerungen, als am 15. Januar 1945 Bomben das Haus seiner
Zeitzeuge Ewald Wurst aus dem Hohbuch berichtet von seinen Kindheitserinnerungen, als am 15. Januar 1945 Bomben das Haus seiner Eltern in Reutlingen zerstörten. Foto: Frank Pieth
Zeitzeuge Ewald Wurst aus dem Hohbuch berichtet von seinen Kindheitserinnerungen, als am 15. Januar 1945 Bomben das Haus seiner Eltern in Reutlingen zerstörten.
Foto: Frank Pieth

Die weiteren schweren Bombenangriffe auf seine Heimatstadt hat Ewald Wurst nicht miterlebt. Nach dem 15. Januar ist Eva Wurst mit ihren beiden Buben zum Bruder ihres Mannes geflüchtet, der einen kleinen Bauernhof in Wiesenbach im Kreis Backnang hatte. Drei Tage seien sie dorthin unterwegs gewesen, zu Fuß mit einem Leiterwagen, etwa 100 Kilometer. »Des woiß i no«, sagt Ewald Wurst. (GEA)