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Wie ein neues G9 in Reutlingen aufgenommen wird

Die Ankündigung der Landesregierung, den Wechsel zurück zum neunjährigen Gymnasium vollziehen zu wollen, sorgt auch in Reutlingen für Gesprächsstoff. Welche Befürchtungen, Hoffnungen und Notwendigkeiten mit dem »Retour« verbunden sind.

Das Turbo-Abi soll bald Geschichte sein. Wie das neue neunjährige Gymnasium ausgestaltet sein wird, ist aber noch offen.
Das Turbo-Abi soll bald Geschichte sein. Wie das neue neunjährige Gymnasium ausgestaltet sein wird, ist aber noch offen. Foto: Armin Weigel/dpa
Das Turbo-Abi soll bald Geschichte sein. Wie das neue neunjährige Gymnasium ausgestaltet sein wird, ist aber noch offen.
Foto: Armin Weigel/dpa

REUTLINGEN. Rolle rückwärts in Sachen Hochschulreife: Mit der Ankündigung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann, einer flächendeckenden Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium (G9) grünes Licht zu erteilen, ist eine alte Diskussion neu entflammt. Auch in Reutlingen sorgen die Pläne der Landesregierung für reichlich Gesprächsstoff. Umso mehr, als dieser Richtungswechsel doch sehr überraschend kam. Sogar für jene, die in der Achalmstadt seit Einführung von G8 nachgerade gebetsmühlenartig die Abkehr vom sogenannten »Turbo-Abi« gefordert hatten - über anderthalb Dekaden hinweg allerdings erfolglos.

Proteste hin, Forderungen her – es blieb beim G8-Standard für allgemeinbildende Gymnasien: übrigens mit kultusministerialem Hinweis auf Berufsschulen, an denen das (Fach-)Abitur ja seit jeher innerhalb von dreizehn Schuljahren erworben werden kann. Was mittlerweile auch für ausgewählte Gemeinschaftsschulen gilt. Etwa für die Reutlinger »Minna-Specht«, deren erste gymnasiale Oberstufe im kommenden Jahr zur allgemeinen Hochschulreife gelangt.

Profiteure des »Zurück in die Zukunft«

Mit diesem Alleinstellungsmerkmal – G9 auf Basis des Anforderungskatalogs allgemeinbildender Gymnasien – konnte die Minna-Specht-Gemeinschaftsschule (MSGS) bislang punkten. Stand sie damit doch außer Konkurrenz. Was sich mit Wiedereinführung eines wie auch immer ausgestalteten neunjährigen Gymnasiums komplett ändern wird.

Dann nämlich dürfte für die MSGS die Luft dünn werden. Umso mehr, als das Modell Gemeinschaftsschule in den Köpfen vieler Eltern noch immer nicht angekommen ist und deshalb auch nicht als Alternative zum klassischen »Gymi« in Betracht gezogen wird.

Profiteure des von der Landesregierung um Kretschmann beabsichtigten »Zurück in die Zukunft« werden also zweifelsohne die allgemeinbildenden Abiturienten-Schmieden sein – Profiteure im Sinne von Schülerzuwächsen. Was in Rektoraten und Lehrerzimmern indes keinen spontanen Beifall, sondern vielmehr Besorgnis auslöst: mit Blick auf die schon heute äußerst knappen personellen und räumlichen Ressourcen.

Es muss investiert werden: In Manpower und Platzangebot

Beide, sagt der Geschäftsführende Direktor aller fünf Reutlinger Gymnasien, Dr. Günter Ernst, reichen hinten und vorne nicht aus, um den erwartet stärkeren Zulauf stemmen zu können. Weshalb zügig investiert werden müsse: in Manpower und Platzangebot.

»Die Wiedereinführung von G9 an allen fünf Gymnasien«, so Ernst, »bedeutet 23 zusätzliche Klassen« und damit auch 23 zusätzliche Unterrichtsräume. Letztere gebe der Ist-Immobilienbestand nicht her. Bauliche Erweiterungen seien mithin unumgänglich. Was in Zeiten knapper Kassen und angesichts eines bereits seit geraumer Zeit existierenden imposanten Investitionsstaus (der GEA berichtete) ein enormer finanzieller Kraftakt sei. Und zugleich eine Steilvorlage für die Befürworter eines evangelischen Gymnasiums?

Ganz gewiss. Wiewohl Günter Ernst – er ist bekanntlich Kritiker dieses von der Reutlinger Stadtverwaltung unterstützten Vorhabens – in der Schaffung einer Privat-Penne nach wie vor keine adäquate Lösung sieht. Zumal die Evangelische Schulstiftung ihr projektiertes Gymnasium ja maximal dreizügig auszulegen beabsichtigt. Was im Umkehrschluss heißt, dass trotzdem massiv in den Bestand investiert werden muss.

Wird in Reutlingen das Pferd von hinten aufgezäumt?

Warum, fragen sich neben Ernst vor allem auch Vertreter des Reutlinger Bündnis »Bildung für alle« – also nicht gleich sämtliche etablierten staatlichen Bildungseinrichtungen für den absehbaren Ansturm ertüchtigen? Und: Weshalb unterm Strich zig Millionen kommunaler Haushaltsmittel für ein Privat-Gymnasium in die Hand nehmen, wenn noch kein aktualisierter Schulentwicklungsplan inklusive Schülerzahlprognosen für Reutlingen vorliegt?

Einen solchen will die Stadtverwaltung zwar 2024 in Angriff nehmen – eine entsprechende Beschlussvorlage wird dem Gemeinderat am kommenden Donnerstag zur Abstimmung vorgelegt –, dies jedoch losgelöst von der Entscheidung pro oder kontra evangelisches »Gymi«.

Ein Vorgehen, das Vertreter des Bündnis’ »Bildung für alle« ans sprichwörtlich von hinten aufgezäumte Pferd erinnert. Genau andersrum, heißt es, müsse verfahren werden: Erst sollten Daten erfasst und Prognosen erstellt und dann, in einem zweiten Schritt, darüber befunden werden, wie eine zukunftsweisende Lösung für Reutlingens Bildungslandschaft ausschaut.

Bloß kein Rückfall in die 1990er-Jahre

Apropos zukunftsweisende Lösung: Solange nicht klar ist, wie das neue G9 inhaltlich ausgestattet sein wird, kann seine Rückkehr streng genommen von niemandem gelobt oder getadelt werden. Vor diesem Hintergrund hält sich der Geschäftsführende Schulleiter Günter Ernst mit Bewertungen zu rück. Er hofft allerdings darauf, dass »keine ganz großen Strukturfragen« aufs Tapet kommen, die erfahrungsgemäß mit langwierigen Findungsprozessen verbunden sind.

Grundsätzlich ist er der Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums zugeneigt. Sofern G9 »keinen Rückfall in die 1990er-Jahre« bedeutet. G8 habe schließlich jede Menge Innovation mit sich gebracht. »Damals wurde der Bildungsplan entrümpelt.« Das sei »wohltuend, gut und richtig« gewesen, habe Abiturienten einen zeitigeren Studienbeginn ermöglicht oder – alternativ – Auslandserfahrung und berufliche Orientierung durch Praktika.

Wie auch immer das neue G9 am Ende aussehen wird: Nach Meinung von Günter Ernst darf es nicht mit einer Erhöhung der Stundenzahl einhergehen. »Ein Jahr mehr, aber entspannt«, das wünscht er sich für Baden-Württembergs Gymnasiasten; weniger Nachmittagsunterricht und dafür mehr fächerübergreifendes Lernen. (GEA)