REUTLINGEN. Die Begegnung mit Reutlingens Geschichte macht Staunen. »Krass, was damals passiert ist«, sagt Sarah. Die Schülerin des Friedrich-List-Gymnasiums arbeitet sich mit Mitschülern im Rahmen des Projektes »Reutlingen zwischen den Extremen« durch die Geschichte der Achalmstadt. »Wie hat es 1933 in Reutlingen ausgesehen? Welche Rolle spielte die NSDAP?«, fragt Denis und blättert nach Antworten in Dokumenten, die er im Internet gefunden hat.
An einem anderen Tisch sitzt Lucie. Ihre Gruppe hat die Zeit von 1900 bis 1918 auf dem Schirm. Industrialisierung, Erster Weltkrieg. »Man kann sich nicht vorstellen, wie es damals war«, sagt Felix. Lucas, der in einer anderen Gruppe arbeitet, stößt bei Recherchen auf Ereignisse aus den Jahren 1950 bis 1955. »Die Wirtschaft hat floriert und die Leute haben viel verdient.« »Ich hätte nicht in der Zeit leben wollen. Aber wir profitieren heute davon, was die Menschen damals aufgebaut haben«, sagt Matthias. »Man musste hart arbeiten, wenn man sich etwas leisten wollte. Damals schaute jeder nach sich selbst«, sagt Felix. »Vieles wirkt bis heute. Unsere Demokratie ist zwischen 1945 und 1950 aufgebaut worden«, sagt Julian.
Am Anfang stand eine zentrale Frage: Wie hängen Mikro- und Makrogeschichte zusammen? »Ein Großteil der Menschen schaut bei wichtigen Ereignissen meist in die großen Städte oder die Orte eines konkreten Geschehens. Doch wie erlebte Reutlingen die zahlreichen einschneidenden historischen Ereignisse in dieser Zeit? Das wollen wir darlegen, indem wir innerhalb einer Präsentation kurz und knapp das Weltgeschehen vorstellen und dann den Blick in unsere Heimatstadt richten«, sagt Janina Lienau. Sie ist Lehrerin für Deutsch und Geschichte in der mit seiner über 700-jährigen Geschichte ältesten Schule der Stadt.
Das Projekt basiert auf einer gemeinsamen Idee von Netzwerk Kultur und Reutlinger Geschichtsverein. Der könne sich doch an der 7. Kulturnacht am 21. September beteiligten, hatte Edith Koschwitz vom Netzwerk Kultur angeregt. Professor Roland Wolf, Vorsitzender des Geschichtsvereins, musste über diesen Vorschlag nicht lange nachdenken.
Auch die Listschüler der Klasse 9 brauchte niemand zu überreden. »Sie waren sofort Feuer und Flamme«, sagt Janina Lienau. Zunächst informierten sich die im Schnitt 14-Jährigen über zentrale historische Themen. Dann einigte sich die Klasse auf ein gemeinsames Layout. Bereits Ende Juni wurde das Material gesichtet, ehe Anfang Juli das inhaltliche Konzept erstellt wurde. Welche Aspekte sollen aufgenommen werden? Wie lassen sich diese inhaltlich mit Reutlingens Geschichte verbinden? Welche Bilder werden benötigt? Die Listschüler decken in etwa den Zeitraum zwischen 1900 und 1955 ab.
Parallel arbeiten Schüler des Wirtschaftsgymnasiums der Theodor-Heuss-Schule an der Zeit von Mitte des vergangenen Jahrhunderts bis in die Neuzeit. Federführend ist hier Lehrerin Ulrike Wolf, Roland Wolfs Tochter. »Diese Schüler werden sich unter anderem mit der 68er-Generation beschäftigen, aus Reutlinger Sicht die Geburtsstunde der Zelle«, sagt Roland Wolf.
»Was bei der Kulturnacht präsentiert wird, basiert auf Quellen«
Der ehemaliger Lehrer für Deutsch und Geschichte am Bildungszentrum Nord (BZN) war in Tübingen auch Bereichsleiter für Gesellschaftswissenschaften und Fachleiter für Geschichte am Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Gymnasien sowie Lehrbeauftragter für Geschichtsdidaktik an der Universität Tübingen. Seit 2016 ist er im Ruhestand. In seiner jüngsten Veröffentlichung »Bedrohte Ordnungen« hat sich der 69-Jährige im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs in Tübingen mit der Frage beschäftigt, wie Geschichte transparent gemacht werden kann – gerade im Hinblick auf die junge Generation respektive die Schule.
Der 1889 gegründete Geschichtsverein will bei der jungen Generation Interesse für das historisch-kulturelle Erbe Reutlingens fördern. Das Unterstützen von Schülerprojekten und die Vergabe eines »Reutlinger Geschichtspreises« in den Abschlussklassen sind dafür probate Mittel. Vor allem die Jugendgeschichtswerkstatt als Teil des Geschichtsvereins ist Ansprechpartner für die Jugend. Sie hat zwischen 12 und 15 Mitglieder im Alter zwischen 16 und 19 Jahren. »Wichtig ist die enge Zusammenarbeit mit dem Jugendgemeinderat und den Schulen«, sagt Roland Wolf.
»Geschichte nur zu referieren, reicht nicht«
Die Listschüler haben für das Projekt »Reutlingen zwischen den Extremen« Quellenstudium beispielsweise im Stadtarchiv betrieben. »Eine große Rolle dabei spielen Fotos, von denen das Stadtarchiv jede Menge aus allen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat. Da ist eifrig fotografiert worden«, sagt Roland Wolf.
»Meine Erfahrung ist: Wenn man Jugendlichen etwas Anspruchsvolles gibt, fangen sie an zu denken und machen begeistert mit. Dann sind sie auch bereit, aufzutreten, denn das müssen sie ja im Spitalhof.« Der Verein versucht seit geraumer Zeit, nicht nur akademisch gebildete Schichten anzusprechen, »wobei die wissenschaftliche Ebene für uns auch in Zukunft ein Standbein bleibt. Wir sind aber der festen Überzeugung, dass Geschichte nicht nur im akademischen Bereich stattfinden darf.« Wenn sich Geschichte nur im Elfenbeinturm bewege, bleibe sie wirkungslos.
Dass die Jugend daran durchaus ein Interesse hat, bekommt Roland Wolf immer wieder durch Projekte bestätigt, die die Jugendgeschichtswerkstatt in den vergangenen Jahren initiiert hat. »Sobald man mit spannenden Themen kommt, merkt man, wie bei ihnen die Augen aufgehen. Dann sind sie empfänglich für Historisches. Sie müssen aber etwas zu tun bekommen. Geschichte nur zu referieren, reicht nicht. Geschichte muss erlebbar werden«, sagt Roland Wolf. Ein knochentrockenes Rekapitulieren von Fakten tauge jedenfalls nicht. »Die Schüler sahen ihren Eindruck bestätigt, dass das vergangene Jahrhundert ein Jahrhundert der Extreme war. Der Anspruch ist aber: Die Schüler sollen sich mit Geschichte beschäftigen, ohne den wissenschaftlichen Ansatz zu vernachlässigen. Das heißt, dass das, was bei der Kulturnacht präsentiert wird, basiert auf Quellen, die überprüfbar sind.«
Aufgeteilt in Blöcke bleiben den einzelnen Gruppen jeweils fünf Minuten Zeit, ihre Recherchen im Spitalhof im Rahmen der Kulturnacht vorzutragen – eine stramme Vorgabe, die einzuhalten nicht einfach ist angesichts des umfangreichen historischen Materials. »Wer viel weiß, hat viel zu sagen«, sagt Roland Wolf. Das werden spannende 60 Minuten am 21. September im Spitalhofsaal. (GEA)
VEREIN MIT LANGER TRADITION UND 630 MITGLIEDERN
Altertümer-Sammlung war Grundstock fürs Heimatmuseum
Der Reutlinger Geschichtsverein besteht seit 1889 und zählt mit etwa 630 Mitgliedern zu den großen historischen Vereinen im Lande. Als Geschäftsstelle dient das Stadtarchiv. Das Veranstaltungsprogramm umfasst historische und kulturgeschichtliche Vorträge, Pflege des historisch-kulturellen Erbes, wie zum Beispiel die Schiedweckenfeier und die Wiederbelebung der reichsstädtischen Schwörtagsfeierlichkeiten mit Schwörtagsvortrag sowie Exkursionen und Studienfahrten. Der Verein engagiert sich in der Denkmalpflege für die Erhaltung des historischen Stadtbildes, beteiligt sich an Stadtführungen und fördert wissenschaftliche, heimat- und kulturgeschichtliche Initiativen. Die Altertümer-Sammlung des Vereins bildete den Grundstock für das 1939 eröffnete Heimatmuseum. (GEA) Quelle: Homepage des Geschichtsvereins