REUTLINGEN. Bis zu 2.000 Demonstranten in der Innenstadt: In den vergangenen Wochen haben die Proteste gegen die Corona-Politik und das teils massive Polizeiaufgebot dagegen das Reutlinger Stadtbild am Samstagabend geprägt. Der GEA hat beim Reutlinger Polizeipräsidium nachgefragt, welche Gruppierungen auf der Straße mitlaufen und wer den Protest organisiert. Das Stuttgarter Innenministerium und der Verfassungsschutz waren in die Beantwortung der Fragen involviert.
Ansprechpartner war auch der freie Journalist und Publizist Lucius Teidelbaum, der das Protestgeschehen in den sozialen Netzwerken von Beginn an beobachtet hat.
Das bisherige Organisations-Team
Das Organisations-Team in Reutlingen und der Region hat sich mehrfach verändert. Nach Angabe der Polizei sind die Hauptakteure »eindeutig der sogenannten Querdenkerszene zuzuordnen, die aber in sich keineswegs eine komplett homogene Gruppierung darstellt«.
Die ersten Demos haben in Reutlingen Ende 2020 begonnen: Lichterspaziergänge, angemeldet von Mitgliedern der Partei »Die Basis«. Nachdem es im Lockdown Ende 2020/Anfang 2021 schwer gewesen war, Proteste anzumelden, seien Autokorsos organisiert worden, sagt Lucius Teidelbaum. »Als die Maßnahmen Mitte 2021 gelockert wurden, flaute die Dynamik ab.«
Im August habe sich auf der Messenger-App Telegram eine neue Gruppe gegründet: »Die letzte Welle«. »Dort wurde im Herbst zu Protesten in Reutlingen und der Region aufgerufen.« Die Teilnehmerzahl wuchs im Laufe des Winters von 100 auf bis zu 2.000 Menschen an. Kopf hinter der Telegram-Gruppe »Die letzte Welle« nach GEA-Recherchen: der Ofterdinger Manuel Tharann.
Schon im Sommer fiel der 41-Jährige als Protest-Organisator und Redner in Ofterdingen mit kruden Vergleichen auf. So setzte er Kinder-Impfungen mit dem Corona-Impfstoff in Bezug zu Experimenten des NS-Arztes Josef Mengele. Zuletzt meldete er reihenweise Demonstrationen beim Reutlinger Ordnungsamt an.
Weil er sich weigerte, zentrale Auflagen wie die Maskenpflicht zu erfüllen, bekam er keine Genehmigung. Im Netz warb Tharann jedoch weiter verklausuliert für verbotene Veranstaltungen, auch für die Groß-events am 12. und 18. Dezember. Am Katz-und-Maus-Spiel der »Spaziergänger« mit der Polizei schien er mit der Zeit Gefallen gefunden zu haben. In seinen Videos auf Telegram machte Tharann immer wieder kreative Vorschläge für die »Spaziergänger«.
Gerade hat es der Ofterdinger bis in die Bild-Zeitung geschafft: 51 Tage hat er laut Medienberichten seinen Sohn aus der Schule genommen, weil er die Corona-Auflagen der Ofterdinger Burghof-Schule ablehne. Tharann hat mittlerweile ein Aufenthaltsverbot für die Zeit der samstäglichen Proteste an den einschlägigen Demonstrationsorten. Gleiches gilt für Enrico Schulz, der auf Telegram ebenfalls seit Monaten für die Proteste in der Region wirbt (siehe unten).
Die neuen Organisatoren
Am 8. Januar haben Kevin Brügmann (35) und eine Handvoll Mitstreiter erstmals die Demonstrations-Organisation in Reutlingen übernommen. Der Altenpfleger ist wie seine Mitstreiter unmittelbar von der Impfpflicht betroffen. Die Gruppe um ihn herum will die Samstags-Proteste bis auf Weiteres wieder ordnungsgemäß anmelden und für die Einhaltung der Vorgaben, insbesondere der Maskenpflicht sorgen.
Das Katz-und-Mausspiel der »Spaziergänger« mit der Polizei bei den unangemeldeten Demos habe ihm nicht gefallen, beteuert Brügmann. Das Anliegen der Impfgegner finde so »weniger Gehör«.
Als Versammlungsleiter wolle er verhindern, dass Radikale Raum gewinnen: So waren am vergangenen Samstag an der Front des Demo-Zuges durch Reutlingen schwarz Vermummte mit einem Banner mit der Aufschrift »Widerstand« und Adler-Symbolen gelaufen, die durch Lautstärke und Aggressivität auffielen. »Wir distanzieren uns von solchen extremen Gruppen«, beteuert Brügmann. 1.800 Teilnehmer kamen am vergangenen Samstag nach Reutlingen zur Demo. »Tharanns Gefolgschaft kommt uns zugute«, vermutet der Altenpfleger.
Die »Friedlichen Bürger«
In der Öffentlichkeit wird häufig die Existenz extremer Gruppierungen bei den Protesten thematisiert. Tatsächlich aber ist wohl auch in Reutlingen die Mehrzahl der Protestierenden der gesellschaftlichen Mitte zuzuordnen, die friedlich mit der Kerze in der Hand gegen die Impfpflicht und die Corona-Politik protestieren will. »Unzufriedene Bürger, besorgte Mütter, Parteienvertreter« stehen neben »Verschwörungstheoretikern«, formuliert die Polizei. Bei den Protesten laufen auch nach Teidelbaums Erkenntnissen »alle Gesellschaftsschichten mit«.

In den regionalen Telegram-Gruppen äußerten sich in der Vergangenheit die meisten Gegner der Corona-Politik ebenfalls friedlich. Manuel Tharann und Enrico Schulz bitten in mehreren Videos auf ihren Telegram-Kanälen die Teilnehmer der Proteste, stets friedlich zu bleiben.
Die Radikalisierten
Bisweilen geht es jedoch im Netz auch härter zu: Im Dezember und Januar wird in der Telegram-Gruppe »WIR SIND – Chat Reutlingen« gedroht, Journalisten oder Beamten einen »Besuch« abzustatten. In einer anderen regionalen Gruppe stellt ein Nutzer ein Video mit Musik online: Im Text geht es um die Exekution von Politikern. Bislang seien abseits von Anhängern der Partei »Der Dritte Weg« allerdings noch keine anderen extremen oder extremistischen Gruppen bei den Reutlinger Protesten aufgetreten, heißt es bei der Polizei. Fallen bestimmte Gruppen auf, die Polizisten provozieren? Auch dies wird verneint. Es fielen lediglich einzelne Personen wiederholt auf, die aber keiner Gruppierung zugeordnet werden könnten.
»Viele der Protestierenden haben sich in der Pandemie nach rechts radikalisiert, nachdem sie vorher eigentlich aus alternativen Milieus kamen«, sagt Beobachter Teidelbaum dazu. Weil die Bewegung die Maxime habe, sich nicht spalten zu lassen, lasse die schweigende Mehrheit der Protestierenden die wenigen extremistischen Personen gewähren.
»Der Dritte Weg«
Bei einigen Corona-Protesten wurden Personen festgestellt, die sich offen zur Partei »Der Dritte Weg« bekannt haben, sagt die Polizei Reutlingen. Es deute aber nichts auf eine "herausragende verantwortliche Rolle in der Organisation der Veranstaltungen" hin. Die Kleinstpartei »Der Dritte Weg« wird vom Verfassungsschutz Baden-Württemberg beobachtet, der sie als "rechtsextremistisch bis neonazistisch" einordnet. Die Partei hat in Baden-Württemberg keinen ihrer sogenannten "Stützpunkte" und dort nur etwa 20 Mitglieder. Sie legt laut Bericht aber – gemessen an der noch relativ niedrigen Mitgliederzahl – "erheblichen Aktivismus an den Tag". Flugblattaktionen, Infostände, Heldengedenkfeiern, die Aktion "Tierfutter statt Böller": Berichte über Aktivitäten finden sich chronologisch fein säuberlich auf der Internetseite der Partei aufgelistet.
Auf dem Telegram-Kanal »Unzensierte Nachrichten Neckar-Alb« und der Website dokumentiert man auch Aktivitäten in Reutlingen und Umgebung: Ein Gruppenbild vor dem Schloss Lichtenstein beim Gemeinschaftsausflug auf die Alb ist zu sehen, man wirbt für Nachbarschaftshilfe in Reutlingen und Umgebung, »um Deutschen bei Einkäufen und anderen wichtigen Alltagsdingen zu helfen«. Dominiert werden Seite und Kanal jedoch vielfach von Hetze gegen Ausländer.
Mit dem Aufflammen der Proteste ist im Internet exemplarisch sehr gut nachzuvollziehen, wie die Partei – zunächst bundesweit – auf den Corona-Protest aufsprang. Seit Dezember 2021 werden auch Teilnahmeaufrufe für die Reutlinger Veranstaltungen verbreitet. Im Netz sind Fotos von Männern vor der Stadthalle zu sehen, die Jacken mit dem Emblem der Partei und der Aufschrift »National.Revolutionär.Sozialistisch« zeigen.
Die Partei »Die Basis«
Auch »Die Basis« ist in Reutlingen und der Region an den Protesten beteiligt. Allen voran die Organisatorinnen der früheren »Lichterspaziergänge« Sofia El Mestary und Michelle Trost. Unter dem Label »Für Frieden, Freiheit, Wahrheit, Demokratie« meldeten El Mestary (Reutlinger Direktkandidatin der Partei »Die Basis«, Listenplatz fünf bei der Landtagswahl) und Michelle Trost (ebenfalls Basis-Mitglied), die Lichterspaziergänge an.
Auch Johanna Pardo, ehemals bei der "Basis" aktiv, bewirbt in ihrem Telegram-Kanal "Johanna Pardo – Positive Vibes" die Proteste gegen die Corona-Politik in der Region. Pardo kandidierte im Wahlkreis Tübingen 2021 auf Listenplatz sieben der "Basis"-Landesliste für den Bundestag. Im Dezember distanzierte sie sich von der Partei". Die "Basis" (5.000 Mitglieder in Baden-Württemberg) wurde 2020 im Umfeld der Corona-Demos gegründet. Mitglieder äußerten sich in der Vergangenheit mehrfach antisemitisch und relativierten in Zusammenhang mit Aussagen über die Corona-Politik und die Pandemie auch den Holocaust.
Die AfD
Die Alternative für Deutschland (AfD) hat – wie andere Populisten – frühzeitig versucht, das Themenfeld Pandemie zu instrumentalisieren. Seit der Protest in Reutlingen größere Dimensionen angenommen hat, meldet sich verstärkt der Reutlinger Gemeinde- und Kreisrat Hansjörg Schrade auf den lokalen Telegram-Kanälen zu Wort.
Schrade berichtet unter anderem davon, wie er als Mitglied einer Dreiergruppe samstagabends friedlich mit Kerze spazierengehend mit der Polizei in Konflikt geriet. Oder er schreibt über seinen offenen Brief an Abgeordnete, Oberbürgermeister Thomas Keck und Polizeipräsidenten Udo Vogel, in dem er Bausteine eines angeblichen »Lügensystems« aufzuzeigen versucht und mit einer Vielzahl von Mitunterzeichnern die Abgeordneten unter anderem auffordert, gegen die Impfpflicht zu stimmen.
Die Freikirchen
Welche Rolle religiöse Strömungen bei der Organisation der Proteste in der Region spielen, darüber kann dem GEA niemand Auskunft geben. Auffallend ist: Immer wieder tauchen in regionalen Protest-Gruppen auf Telegram Menschen auf, die Bezüge zu Freikirchen zu haben scheinen. Auch Enrico Schulz. Der Künstler ist in der Region als Musiker im christlichen Kontext bekannt. Auf seinem regionalen Telegram-Kanal »Enne News« verweist er immer wieder auf Bibel-Psalmen, predigt und macht Werbung für seinen zweiten Kanal »Gebet und Ermutigung«, der bis Donnerstag noch den Namen »Gebets-Armee« trug. Auf »Enne News« ruft er seit Monaten verklausuliert zu angemeldeten und unangemeldeten Protesten in der Region auf. Schulz leugnet in seinen Beiträgen den Nachweis des Coronavirus, spricht von »Gentherapie« und ruft zu zivilem Widerstand auf. (GEA)