REGION. Der Lastwagen, der da Mitte April beim Regionalverband Neckar-Alb in Mössingen vorgerollt war, hatte es auch im übertragenen Sinne in sich. Beladen mit 16 Euro-Paletten voller Einwendungsschreiben gegen den Bau regionaler Windkraft- und Solaranlagen, erwies sich die sage und schreibe 280.000 Statements schwere Fuhre nicht bloß als gigantisches Protestpaket, sondern als eines, das politischen Sprengstoff birgt. Und dies bis heute tut.
Seit nämlich, wie mehrfach berichtet, bekannt wurde, dass die von der Initiative »Gegenwind Neckar-Alb« auf digitalem Wege initiierte Aktion für Zuschriften - per Mail sind übrigens weitere 158.000 überwiegend standardisierte Stellungnahmen abgegeben worden - aus der gesamten Bundesrepublik gesorgt hat, mehren sich die Stimmen derer, die an der Statthaftigkeit der Kampagne zweifeln. Dies aus zweierlei Gründen: weil der Protestaufruf den Regionalverband dazu zwingt, für über 100.000 Euro einen externen Dienstleister mit der Sichtung und Digitalisierung der massenhaften Analog-Post (vorwiegend Musterstellungnahmen) zu beauftragen, aber auch, weil es für wenig zweckdienlich empfunden wird, dass sich Bürger von Boden-, Nord- und Ostsee in Dinge einmischen, die ausschließlich Reutlingen und Umgebung berühren.

Ob da also ein demokratisches Verfahren torpediert, vielleicht sogar ad absurdum geführt wurde? Ob eine Verschleppungsstrategie gefahren wird? Nun, die einen sagen so, die anderen so.
Die einen sind Mitglieder der Initiative »Pro Windkraft Neckar-Alb«, die sich nach Bekanntwerden der XXL-Contra-Kampagne zusammengeschlossen haben, um ein »Gegengewicht zu schaffen«. Ohne Wenn und Aber stellen sie sich hinter den Regionalverband und begrüßen das Vorhaben der Stuttgarter Regierung, mindestens zwei Prozent der Landesfläche für Wind- und Solarkraft zur Verfügung zu stellen - ausdrücklich auch vor der eigenen Haustür.
Die Heimat nicht »verspargeln«
Die anderen gehören der Gruppe »Gegenwind« an, die ihre Heimat nicht »verspargelt« wissen wollen, die in der Atomkraft eine adäquate Alternative zu fossilen Energieträgern sehen und sich von der Kommunalpolitik, den Medien und »Pro Windkraft« an den Pranger gestellt wähnen. Sie reklamieren für sich, geltendes Recht genutzt und eingehalten zu haben. Auch, wenn das dem Regionalverband beziehungsweise dem Steuerzahler nicht schmeckt. So, lässt »Gegenwind« sinngemäß wissen, sei das nun mal, wenn dem Bürger Mitspracherechte eingeräumt werden. Demokratie gebe es halt nicht gratis. Sie koste. Zuweilen nicht nur Zeit und Nerven, sondern eben auch Geld.
Deshalb noch mal zurück zum Ausgangspunkt: Rund 440.000 analoge und digitale (Muster-)Briefe gegen die anvisierten Vorranggebiete für regenerative Energien in der Region Neckar-Alb sind eingegangen, darunter ein erklecklicher Anteil von irgendwo aus dem bundesdeutschen Nirgendwo. Weswegen 100.000 Euro zur gewissenhaften Auswertung und Digitalisierung der überwiegend auf postalischem Weg versandten Zuschriften aufgewendet werden müssen. Ist das legitim?
Who is Who
Bündnis »Gegenwind Neckar-Alb«: Hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluss mehrerer Gruppen. Unter ihnen die Bürgerinitiative Gegenwind Hohenzollern, ProNatur Starzach, die Bitzer Bürgerinitiative, Gegenwind Rottenburg und Gegenwind Bodelshausen.
Initiative »Pro Windkraft Neckar-Alb«: Diese Gruppe wird unter anderem von der Härtenliste, der Patavo GmbH Pliezhausen, der Grünen Liste Gomaringen, der Alternativen Liste Tübingen und den Fridays for Future Reutlingen unterstützt. (GEA)
Es ist. Denn der Gesetzgeber gewährt maximale Spielräume. Aus dem kompletten Bundesgebiet durften ganz legal Einwände gegen Pläne in der Region Neckar-Alb erhoben werden; vom Neugeborenen bis zum Greis hatte jede und jeder ein Mitspracherecht. Dass auf diese Weise womöglich ein verzerrtes Stimmungsbild gezeichnet wurde - »Pro Windkraft« moniert es. »Gegenwind« indes goutiert es – umso mehr, als ohne Fehl gehandelt worden sei. Ohne Tadel freilich nicht. Und das wiederum sorgt jetzt für ein presseöffentliches Pingpong.
So hat »Pro Windkraft« dem GEA jetzt mitgeteilt, dass die Initiative in Kooperation mit Fridays for Future und in Reaktion auf die Protest-Kampagne der Gegenseite eine Online-Petition unter https://weact.campact.de/petitions/pro-windkraft-neckar-alb gestartet hat, die noch bis 10. Oktober läuft und ausschließlich Teilnehmer aus der Region Neckar-Alb erreichen möchte.
Aufklärungskampagne mit »Faktenchecks«
Flankiert ist sie von einer Aufklärungskampagne, von »Faktenchecks«, die per Video-Clips auf Instagram, Facebook und den Websites der beteiligten Organisationen sogenannte Windenergie-Mythen zu entkräften versuchen. »Windräder«, heißt es da, »machen Strom nicht teurer«, haben »keine negative Klimabilanz«, ziehen lediglich minimalen Flächenverbrauch nach sich und lassen sich »zu 90 Prozent recyceln«.
Und »Gegenwind Neckar-Alb«? Reagiert prompt und kritisiert die Petition in einem mehrseitigen Brief, der der GEA-Lokalredaktion vorliegt, scharf. Der 10. Oktober, schreiben die Aktivisten, sei ein »willkürlich und eigenmächtig festgelegter Termin zur Unterstützung des Regionalverbands. Da die offizielle Frist am 15. April abgelaufen ist, liegt diese Aktion außerhalb des offiziellen Verfahrens«. Das sei ein glatter Regelbruch.
Mal ganz davon abgesehen, dass aus Sicht von »Gegenwind Hohenzollern« Zweifel an der Lauterkeit von »Pro Windkraft« gehegt werden dürften. Denn: »Wenn es wirklich so schlimm um die Klimakatastrophe unseres Planeten steht, wie die Protagonisten darstellen, verlieren sie jegliche Glaubwürdigkeit, wenn man aus der klimaneutralen Stromproduktion durch Kernkraftwerke aussteigt … Sind hier etwa Klimaleugner am Werk?«
Polemik pur, die nahe legt, dass das Pingpong von Windkraft-Befürwortern und -Gegner keine Sommerpause einlegt. Derweil hinter den Kulissen massenhaft Protestpost sortiert und analysiert wird und die Zeit verrinnt. Dass sie davonlaufen könnte - diese Befürchtung teilt der Regionalverband Neckar Alb aktuell nicht.
Hier geht man optimistisch davon aus, dass es gelingen wird, bis September 2025 Vorranggebiete für Windkraft- und Solaranlagen auszuweisen und damit Herr des Verfahrens zu bleiben. Sollte die Frist nämlich verstreichen, hätte das weitreichende Konsequenzen. In diesem Falle würde eine sogenannte Superprivilegierung greifen. Konkret: Der Bau von Windkraftanlagen wäre dann prinzipiell überall dort möglich, wo er nicht ausdrücklich verboten ist. (GEA)