REUTLINGEN/REGION. Ein Sehnsuchtsobjekt mit großer Klappe: Kaugummiautomaten mit ihren oft vergilbten oder zerkratzten Sichtfenstern und dem einfachen Münzeinwurfmechanismus mit Drehgriff sind nicht nur an Bushaltestellen und Hauswänden, sondern auch in vielen Kindheitserinnerungen fest verankert. Wer hätte nicht im Schlund des Metallkastens einst das Taschengeld versenkt? Zehnerle einwerfen, Hebel drehen - ratsch, schon landet der ersehnte »Schleck« im schweißig-klebrigen Händchen.
Der Inhalt war ein Glücksgefühl in Kugelform. Auch wenn die beim beherzten Draufbeißen herbeigesehnte Geschmackssinnsexplosion nur Sekundenbruchteile anhielt und die daraus hervorgehende Kaumasse vor allem im Kombination mit Schokolade als unangenehmes Experiment im Gedächtnis klebt. Der bloße Gedanke an die knallbunten Kaugummikugeln sorgt noch immer für leuchtende Kinderaugen. Nur dass die heute »Gum Balls« heißen und mit »Dubble Bubble« locken. Aus der weichgekauten Masse Blasen fabrizieren war schon früher ein vielgübtes Hobby.
Wo gibt es sie noch?
Auch wenn es manche der Zielgruppe Entwachsene anzweifeln: Die kleinen Automaten, meist strategisch kniehoch an Orten des Wartens und in der Nähe von Betreuungs- sowie Bildungseinrichtungen platziert, gibt es noch. Wer mit offenen Augen - und auf künstliche Aromen konditioniertem Gaumen - durch Reutlingen und Umgebung streift, dem eröffnet sich die nach wie vor flächendeckende Versorgung mit dem nährstoffarmen, doch kalorienreichen Naschwerk: An Hauswänden am Albtorplatz und in der Rathausstraße hängen entsprechende Geräte, an einem Zaunpfosten in der Kaiserstraße und an einer Hofbegrenzungsmauer im Gerberviertel beim Spielplatz Pfäfflinshofstraße. Am Kiosk auf dem Marktplatz lassen sich laut Beschriftung etwa »High-bouncing balls«, »Sticky Hands« sowie »Soft & Squishy Poo« (übersetzt: weich-matschige Kacke) ziehen.

Wenige Schritte von einer Bushaltestelle in Glems hängt an einem Gartenzaun ein zweikammeriger Kaugummi- und Schmuckautomat. Den befüllt eine Firma aus Filderstadt mit blasenschlagenden Kugeln verschiedener Fruchtgeschmacksrichtungen zu 20 Cent und Modeschmuck à 1 Euro.
Nur das Exemplar in der Reutlinger Planie - ganz in der Nähe des »Boulevard of Broken Dreams« - ist offensichtlich ausgemustert. Die Ausfräsungen des dreikammerigen Geräts sind mit angemoderter Pappe blockiert und es findet sich seitlich auch keine Eigentümerangabe mehr. Ein Automat, der allenfalls »Lost-Place«-Fans anlocken dürfte.

Ein weiteres Gerät an der Aulberstraße, Ecke Silberburgstraße, ist das Opfer von Vandalen geworden. Nur eine der drei nebeneinanderliegenden Warenklappen spuckt noch Ware aus. Das linke und rechte Sichtfenster wurden samt Metallgitterverstärkung eingedrückt. Und geben nun den Blick in den Mechanismus frei.
Andreas Mayr hat seit 2018 zwischen Aalen und Zwiesel mehr als 6.000 Kaugummiautomaten dokumentiert. In seiner 269-seitigen Auflistung finden sich vier in Eningen, drei in Metzingen, zwei in Neckartenzlingen, aber nur eine Adresse in Pfullingen. Dazu führt die Tabelle 21 Standorte im Reutlinger Stadtgebiet auf, darunter einen im Rommelsbach und zwei in Sickenhausen, die der Augsburger zum Teil erst vergangenen Januar aufgesucht hat.
Seit wann gibt es Kaugummiautomaten?
Klassisch sind die Rahmen der Kaugummiautomaten rot, die Front meist weiß lackiert. Es finden sich aber auch farbliche Varianten, von Blau bis hin zu Pink. Am Achalmbad hängt einer ganz in Weiß. Die Edding-Aufschrift »LSD« führt allerdings in die Irre. Tatsächlich gibt er gegen 20 Cent »Power Gum«-Boxen und für einen Euro Schlüsselanhänger und Sammelkettchen frei. Die ersten fanden in der Nachkriegszeit zusammen mit den Kaugummis aus Amerika den Weg nach Deutschland.
Auch wenn die Geräte, bei denen der Kunde nie genau weiß, was herauskullert, laut Spielzeug-Expertin Karin Falkenberg wesentlicher Bestandteil der Kinder- und Jugendkultur bleiben, so nahm ihre Zahl dem Verband der Automaten-Fachaufsteller (VAFA) zufolge von schätzungsweise einer Million in den Jahren 1950 bis 1990 auf heute etwa 300.000 ab.
Wer füllt die Kaugummiautomaten in der Region?
Die Automaten in Reutlingen und Umgebung gehören Firmen aus Bernhausen, Singen, München und Lorch. Als größter Betreiber in Süddeutschland gilt seit 40 Jahren Gerhard Jahn aus Kammeltal (Landkreis Günzburg), dessen Mitarbeiter tausende Geräte auch in Baden-Württemberg im Dreimonatsrhythmus mit bunten Kaugummikugeln aus Belgien, den USA oder Irland sowie - wechselnden Trends entsprechend - auch mit Plastikringen, Gummitieren und allerlei Glibberzeug bestücken.

Inhalt und Hindernis bei der Lebensmittelkontrolle
Da es sich bei Kaugummi um ein Lebensmittel handelt, erfordere die Herstellung »Sorgfalt und Geschick«, erklärt der Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI): Die fünf Hauptbestandteile seien Kaugummibase, Zucker, Maissirup, Aromastoffe sowie »Zusätze, die die Kaumasse weich und geschmeidig machen.«
Für Lebensmittelkontrollen in der Region ist das Team von Kreisveterinär Dr. Thomas Buckenmaier im Landratsamt zuständig. »Die Betreiber haben die Verpflichtung, ihr stehendes Gewerbe bei uns anzumelden«, sagt er. Sie seien für »Kennzeichnung und einwandfreie Qualität« verantwortlich.
In der Hygiene sieht er bei Automatenware kaum Probleme. Waren die Kaukugeln früher unverpackt, werden sie seit ein paar Jahren nur noch einzeln verpackt abgegeben - »wie ein Bonbon«. Wie lange die gerade für »ganz Kleine« so attraktiv scheinenden Süßigkeiten jedoch schon im Automaten stecken, »das weiß keiner so genau«. Immerhin: Beanstandungen sind ihm ad hoc keine bekannt. »Offensichtlich machen die nicht viel Kummer, sonst hätten wir sie mehr auf dem Plan.« Das Risiko eines Kaugummis sei auch mikrobiologisch betrachtet gering. Was da drin steckt, »kann nur schwer verderben«: viel Zucker und wenig Wasser.
Kontrolleure stoßen hier jedoch auf eine Besonderheit: »An die Ware kommt man nur ran, wenn man Geld einwirft.« Dafür gebe es in der Behörde kein Budget. Und das wäre ungerecht gegenüber anderen Gastronomen, deren Essen zur Kontrolle »mitgenommen, aber nicht bezahlt wird«. Somit informieren die Lebensmittelkontrolleure vor ihren regelmäßigen Stichproben jeweils den Befüller, damit der ihnen das Metallgehäuse öffnet.
Nichtsdestotrotz empfiehlt der VAFA: »Achten Sie auf die regelmäßige Wartung und Reinigung Ihres Geräts sowie die Haltbarkeit Ihrer Produkte.« An gut frequentierten, öffentlich zugänglichen Orten garantierten die Outdoor-Automaten »24/7-Zusatzeinnahmen«.

Von Liebhabern und neuen Ideen
Außer für Kinder scheinen die traditionsreichen Kästen heute auch für Nostalgiker attraktiv. Dem »König der Automaten« Jahn zufolge stehen sie für Kontinuität. Die einzige äußerliche Veränderung war 2002 die Umstellung von D-Mark und Pfennig auf Euro und Cent.
Facebook-Gruppen wie »Kaugummiautomaten-Finder« veröffentlichen regelmäßig Fotos von Neuentdeckungen, »Kaugummiautomaten-Deutschland« bietet eine interaktive Karte mit Standorten unter http://goo.gl/maps/UwVN. Falkenberg, die dem Kultobjekt vor drei Jahren im Nürnberger Spielzeugmuseum eine Ausstellung widmete, berichtet von alten Exemplaren, die auf originelle Weise wiederbelebt werden: Statt mit Süßem mit Witzen, Kunst oder Bienenfutter befüllt, können sie neue Impulse für die Stadtgesellschaft setzen. (GEA)
Was sollten Automatenaufsteller beachten?
Laut Landesbauordnung sind Automaten an bestehenden gewerblich genutzten Gebäuden genehmigungsfrei. Deshalb verfügt das städtische Amt für Wirtschaft und Immobilien über kein entsprechendes Verzeichnis. »Die Aufstellung ist mit dem Gebäude- oder Grundstückseigentümer privatrechtlich zu regeln«, teilt Pressesprecherin Sabine Külschbach mit. Der Aufstellerverband VAFA erklärt, auf dem eigenen Hof oder Betriebsgelände dürfe jeder »einfach einen Automaten aufstellen«. Egal, ob daraus Snacks, Getränke oder das Hofladen-Sortiment verkauft werden.
Dem Finanzamt gegenüber gelten die Eigentümer von Kaugummi- und Gimmickautomaten als gewerbetreibende Betriebe. Auch wenn die Kundschaft rechtlich gesehen oft noch nicht geschäftsfähig ist: Fällt der Groschen, wechselt Ware den Besitzer. Deshalb müssen die Aufsteller ihr Gewerbe dort anmelden. Und am Automaten Name sowie Anschrift sichtbar anbringen. (dia)