REUTLINGEN/TÜBINGEN. Robert Habeck, der von wütenden Menschen bedrängt und am Verlassen eines Schiffes gehindert wird, Traktoren, die Autobahnen blockieren, Klimaschützer, die sich auf Straßen kleben, an Galgen hängende Ampeln. Die aktuellen Formen des Protests in Deutschland lassen keinen Zweifel: Ganz unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft sind unzufrieden mit der derzeitigen Regierung.
Es zeichnet sich ein Bild der Politikverdrossenheit ab. Plakate mit Sprüchen wie »Die Ampel richtet unser Land zugrunde« sind dabei noch eher eine harmlose Protestform. Denn zunehmend wird Kritik an Politikern persönlich – und überschreitet Grenzen. Das zeigt auch eine Umfrage zum Thema unter den Oberbürgermeistern der drei großen Städte im GEA-Verbreitungsgebiet und den zwei Vorsitzenden der größten Reutlinger Gemeinderatsfraktionen.
Gabriele Gaiser, Bezirksbürgermeisterin von Rommelsbach und Fraktionsvorsitzende der CDU im Reutlinger Gemeinderat, ist eine der Betroffenen und weiß allzu gut, wie es ist, angefeindet zu werden – und das nicht nur verbal. Was sie bis heute nicht vergessen hat, war eine Situation im Wahlkampf: »Es sind zwei Männer auf uns losgegangen. Meine Kollegen haben sie dann zurückgehalten«, erzählt Gaiser. Ihre eigentlich bewährte Taktik, verbal Grenzen zu setzen und stets den Dialog zu suchen, funktionierte in diesem Fall nicht mehr: »Das konnte man nicht mit Worten klären«, sagt sie – und bilanziert: Man müsse mit Anfeindungen rechnen. Von ihrem Amt abbringen lässt sich die CDU-Frau dadurch aber nicht. Und bisher musste sie auch noch nie die Polizei alarmieren oder einen Vorfall zur Anzeige bringen.
»Der Privatbereich muss tabu sein«
Im Gegensatz zu Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer: »Ich habe den Weg bestritten, möglichst viel anzuzeigen«, sagt der 51-Jährige. »Die Mehrzahl der Anzeigen wird eingestellt«, kritisiert er. Dabei scheint es, als könne der ehemalige Grünen-Politiker ein mehrstündiges Gespräch mit Geschichten über Anfeindungen aller Art füllen. »Im normalen Leben habe ich leider oft Gewaltausübung erlebt«, erzählt Palmer und wirkt am Telefon betroffen. »Ich wurde einmal so angegangen und verfolgt, dass ich die Polizei rufen musste, um ihn abzuschütteln«, ergänzt er.
Eine weitere klare rote Linie zieht er, wenn seine Familie betroffen ist: »Der Privatbereich muss tabu sein. Bei mir vor dem Wohnhaus haben Corona-Demonstranten ›Palmer verrecke‹ gesungen. Wenn die eigene Familie so etwas anhören muss, ist einfach Schluss.«
Palmer weiß, dass er mehr aneckt, als andere Politiker: »So ist das, wenn man sich exponiert. Es kommt jetzt nicht aus heiterem Himmel.« Trotzdem stellt er sich die Frage, wie man mit solch’ einem Ausmaß an Anfeindungen umgehen soll. Seine Antwort wirkt ungewohnt zurückhaltend: »Bisher habe ich es immer geschafft, mich davon freizumachen – man könnte auch verdrängen sagen.«
Dass er sich gezwungen sieht, derartige Übergriffe hinzunehmen, ist seiner Meinung nach ein Phänomen der Neuzeit. Grund dafür: »die steigende Anonymität im Netz«. Diese Entwicklung sieht er als gefährlich an: »Wer soll sich denn öffentliche Ämter noch antun, wenn man mit solchen Feindseligkeiten rechnen muss«, sagt Palmer. »Die Toleranzgrenze, die öffentlichen Personen zugemutet wird, ist extrem hoch.« Und ihm fällt direkt noch eine Geschichte ein: »Da gibt es einen Fall im Internet: Einer, der mit Waffen posiert, hat mir gedroht, dass er mich erschießen wird. Die Leute sind heutzutage bereit, direkt zuzuschlagen. Das war früher anders«, sagt der Tübinger OB. Resigniert verabschiedet er sich: »Es macht keinen Spaß.«
Sein Reutlinger Amtskollege Thomas Keck berichtet von einer Drohung, die er per Post erhalten hat. Geschrieben stand in dem Brief: »Keck, du Dreckssau! Dich kriegen wir auch noch!« Damit nicht genug: Auf dem Drohschreiben klebten die Beine und der Schwanz einer Maus. Abgesehen von solch’ makaberen Drohungen erreichten Keck vor allem in Coronazeiten vielerlei Beleidigungen: online wie auch im echten Leben. Und gleichzeitig bescherte diese Zeit dem Reutlinger OB auch ein erhöhtes Sicherheitsgefühl: Denn am Rathaus-Eingang standen Security-Leute, um den Einlass zu kontrollieren.
Im Gegensatz zu Palmer und Gaiser blieb Keck bisher von körperlichen Angriffen verschont. Doch auch verbale Angriffe hinterlassen Spuren: »Leute, die behaupten, Hassrede gehe an ihnen spurlos vorbei, sind für mich nicht glaubhaft«, sagt der SPD-Politiker. »Ich habe auch einen Notfallknopf an meinem Schreibtisch.«
Wie sein OB-Kollege Palmer verfolgt er die Strategie, »Anfeindungen anzuzeigen«. Er ist sich aber unsicher, ob das hilft oder sich die Schuldigen dann nur noch bestärkt fühlen. Keck verbringt nach eigener Aussage wenig Zeit in sozialen Netzwerken. Leute, die Drohungen unter dem Deckmantel eines Fake-Profils bei Facebook verfassen, sind für ihn Feiglinge.
Auch Gabriele Janz verzichtet weitgehend auf die Nutzung sozialer Medien: »Das ist altersbedingt«, scherzt die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Reutlinger Gemeinderat. Was nicht bedeutet, dass im Netz nicht über sie geschrieben wird. So hat der Reutlinger AfD-Stadtrat Hansjörg Schrade über Janz auf Facebook geschrieben: »Ich will mit Frau Janz auch kein Bier trinken, ich kann mir einen Abend wirklich lustiger vorstellen, als mit der Reinkarnation von Fräulein Rottenmeier aus Heidi im Reutlinger Gemeinderat. Der säuerlich-erhobene Zeigefinger als moralinsaure Dauer-Erektion – nein, danke.«
Für Janz ist klar: Dahinter stecken sexistische Gedankenmuster – damit ist für die Lokalpolitikerin eine klare Grenze überschritten. Schrade hingegen sieht das anders. Er beruft sich auf Facebook darauf, dass es sich um eine »ironische Replik« gehandelt habe.
»Ein Notfallknopf am Schreibtisch«
»Ich wahre Distanz«, sagt Janz über den Umgang mit Beleidigungen. »Politiker haben eine Vorbildfunktion« inne, sagt sie. Respektvolle Sprache ist für sie das A und O. Wenn sich Politiker jedoch gegenseitig anfeinden, fördere dies ein vergiftetes Klima und der beleidigende Umgang werde gesellschaftlich weiter legitimiert. In diesem Fall: Frauenfeindlichkeit. »Vieles wird sagbarer«, so Janz. Das wechselseitige verbale Hochschaukeln von Politikern wie Bürgern ist für sie eine bedrohliche Entwicklung: »Ich finde das beängstigend. Nicht für mich persönlich, aber für die Gesellschaft.«
Ähnlich denkt Carmen Haberstroh, Metzingens Oberbürgermeisterin: »Ich finde die Entwicklungen besorgniserregend.« Sie löse Konflikte gerne im Dialog: »Ich suche das Gespräch. Ich finde, Kommunikation ist in unserer Zeit in den Hintergrund gerutscht.« Online habe sie einige Male versucht, Uneinigkeiten zu klären und vermeintliche »Kritiker« zu kontaktieren. »Da kam nichts zurück«, sagt sie, was sie bedauert. Schließlich sei sie die Oberbürgermeisterin aller Metzinger und mache da auch keine Ausnahme.
Sie wurde allerdings »ganz selten mit Hassrede und Anfeindungen konfrontiert« – was laut ihr unter anderem daran liegt, dass sie noch nicht so lange im Amt ist. Für sie aber ist klar: Bei Drohungen und Beleidigungen ist Schluss. »Das macht mir Angst. Das bringe ich auch zur Anzeige«, sagt die 52-Jährige deutlich. Anders als ihre Polit-Kollegen möchte Metzingens OB keinen konkreten Fall nennen: »Ich möchte solche widerlichen Drohungen nicht erneut in der Zeitung lesen. Ich will anonymen Schreibern keine Plattform geben«, sagt die Freie-Wähler-Politikerin. Das sorge nur für Trittbrettfahrer. Es sei für sie wichtig, zu betonen, dass der Großteil der Menschen ihr sehr freundlich begegnet.
Ähnlich wie Palmer sieht sie das Amt des Politikers und zwangsläufig auch die Demokratie durch eine rasante Verrohung der Gesprächskultur und Gewaltbereitschaft gefährdet: »Wenn sich diese Formen immer mehr verschärfen, finden sich keine Politiker mehr.« (GEA)