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Warum Freikirchen auch in Reutlingen boomen

Poppige Verpackung, konservativer Inhalt: Die großen Kirchen in Deutschland schrumpfen. Einige Freikirchen hingegen boomen - auch in Reutlingen. Was macht Bewegungen wie ICF (International Christian Fellowship) oder die Christliche Gemeinde Reutlingen (CGR) so attraktiv?

Emotional und zuweilen auch sehr laut geht es bei den multimedial unterstützten Gottesdienstformaten der ICF zu.
Emotional und zuweilen auch sehr laut geht es bei den multimedial unterstützten Gottesdienstformaten der ICF zu. Foto: Adobe Stock/Paul
Emotional und zuweilen auch sehr laut geht es bei den multimedial unterstützten Gottesdienstformaten der ICF zu.
Foto: Adobe Stock/Paul

REUTLINGEN. Jahr für Jahr geht die Zahl der Kirchenmitglieder zurück, die Reihen in den Gottesdiensten lichten sich, immer weniger Menschen engagieren sich in der katholischen oder evangelischen Kirche. Demgegenüber wächst die Zahl der Freikirchen seit Jahren stetig an - und viele von ihnen erleben einen enormen Boom. Das heißt, am Glaube und der biblischen Botschaft allein kann es nicht liegen, wenn sich Gläubige von der Kirche abwenden. Ganz im Gegenteil: »Viele Menschen suchen nach Spiritualität«, beobachtet Dr. Sarah Pohl, Leiterin der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg (ZEBRA). Ganz offensichtlich sei es so, dass Freikirchen »den Menschen etwas bieten, das ihnen in den traditionellen Kirchen fehlt«.

Gottesdienst in poppiger Verpackung

Zum einen ist es die Verpackung, die oft attraktiver erscheint als in den institutionellen Kirchen. »Die Gottesdienste sind moderner aufgemacht, mit Bands, alltagsnahen Predigten, die Besucher werden abgeholt, man hat ein gutes Gefühl, wenn man dort ist«, erklärt Pohl. Sie nennt es eine »popkulturelle Ästhetik«. Die Besucher werden emotionalisiert, was gerade Jüngere und Menschen im mittleren Alter anspricht. Eine Freikirche, die extrem Wert legt auf eine moderne Art der Gottesdienstgestaltung, ist der ICF (International Christian Fellowship): Der sonntägliche Gottesdienst wird hier zur »Celebration«, die Lieder erklingen von der Rockband statt von der Orgel und das Liedgut selbst hat fast Hitpotenzial.

Wer keine Zeit hat, um vorbeizukommen, kann den Gottesdienst im Livestream verfolgen, es gibt Podcasts zu den unterschiedlichsten Themen oder das ICF-Radio, das man den ganzen Tag über Internet empfangen kann. Die Predigten seien bewusst einfach und alltagsnah gehalten, erzählt Sonja Bauer, die seit vielen Jahren der Bewegung angehört. Wer inhaltlich tiefer einsteigen will, kann eine der »Small Groups« besuchen, eine Kleingruppe, in der Themen näher besprochen werden. Etwas, das die Bewegung ihren Besuchern ans Herz legt.

ICF in Sondelfingen

Seit 17 Jahren gibt es die ICF Reutlingen, damals begann alles mit einem kleinen, privaten Hauskreis und dem Wunsch, »Kirche neu zu erleben«. So ist auch das Motto der ICF-Church, die 1996 in Zürich gegründet wurde. Am Reutlinger Standort hat sie immensen Zulauf: »Wir wachsen jährlich zwischen 18 und 22 Prozent«, sagt Gründer und Pastor Mike Schmidt, der zwischenzeitlich hauptamtlich dort tätig ist. Vor einem Jahr haben sie ihr neues Domizil in Sondelfingen bezogen: Dort gibt es nicht nur Büros für die Angestellten, sondern Bistro- und Aufenthaltsbereiche, eine Kita und die »Hall«, in der jeden Sonntag 500 bis 600 Besucher auf zwei »Celebrations« verteilt feiern. Finanziert werden die Angebote, Aktivitäten und Gehälter der Mitarbeiter rein durch Spenden, erklärt Schmidt. Zudem bringen sich die Gläubigen aktiv ein: Es gibt Begrüßungsteams, Techniker, Musiker und Helfer im Bistro. »Wir sind eine Mitmach-Kirche mit hoher Teilhabe«, erklärt Schmidt. Während die Landeskirchen vor allem ganz Junge und Ältere anspricht, bedient ICF in großen Teilen das Klientel dazwischen.

CGR Reutlingen

Das Angebot der Christlichen Gemeinde Reutlingen (CGR) ist ähnlich strukturiert, wenn auch nicht ganz so peppig: Die Gemeinde, die bereits seit fast 40 Jahren existiert, hat ebenfalls klein angefangen, kann aber ein »kontinuierliches Wachstum« verzeichnen, erzählt Pastor Joachim Rauscher. Auch hier gibt es Gruppen für unterschiedliche Altersstufen und Interessen, von der Kinderkirchen- und Krabbelgruppe bis zum Männerkreis. Die Gottesdienste werden teils im Popstil abgehalten, »aber wir schätzen auch die alten Kirchenlieder«, sagt Rauscher. Er selbst hat kurz nach der Konfirmation in der evangelischen Landeskirche Kontakt bekommen zur CGR. Die christlichen Werte fand er schon immer gut, erzählt Rauscher, aber er habe in der evangelischen Kirche keinen richtigen Zugang dazu gefunden. In der Christlichen Gemeinde sei er dann mit einer anderen Art der Frömmigkeit in Berührung gekommen.

Die Inhalte: Wertekonservativ und bibeltreu

So poppig und modern die Verpackung, so traditionell und wertekonservativ sind die Inhalte vieler Freikirchen. Auch im ICF und der CGR gibt es ein ganz klares Bibelverständnis. »Es ist Gottes Wort, wir wollen die Bibel sprechen lassen«, sagt Rauscher, »sie hat Relevanz für die heutige Zeit und unser Leben«. An das, was in der Bibel steht, wollen sich die Mitglieder der CGR halten - auch wenn manches davon unbequem oder unpopulär anmutet. Die Gesellschaft werde immer liberaler, Regeln und Gebote verlieren oft an Bedeutung. »Die Orientierung wird immer schwieriger«, ist Rauscher überzeugt, »die Menschen suchen Halt«. In die Gemeinde kommen oft Personen, die in Krisen stecken oder die Antworten auf grundlegende Fragen suchen, beobachtet Joachim Rauscher. Die Landeskirchen geben nach Ansicht der Freikirchen so manches Mal keine klaren Antworten mehr, passen sich einer offenen Gesellschaft zu sehr an. Etwas, das Dr. Pohl bestätigen kann: Sie höre immer wieder von Anhängern der Freikirchen, dass sich die Landeskirchen zu sehr dem Zeitgeist beugen. Der eben liberal und tolerant ist.

Seit 17 Jahren gibt es die ICF Reutlingen.
Seit 17 Jahren gibt es die ICF Reutlingen. Foto: Pieth
Seit 17 Jahren gibt es die ICF Reutlingen.
Foto: Pieth

Anders sei dies im ICF, sagt beispielsweise Sonja Bauer: »Die Klarheit in den Predigten hat mich von Anfang an fasziniert.« Auch Lisa Gutsche, die mit 14 Jahren zur CGR gekommen ist, begrüßt die Haltung ihrer Gemeinde. »Kirche verliert dann an Relevanz, wenn sie nicht das repräsentiert, was Jesus gesagt hat.«

Sei es bei Fragestellungen wie Sex vor der Ehe, Abtreibung, Homosexualität oder Sterbehilfe - oft sind derlei ethische Fragen eine große Herausforderung für die Kirchen, die nicht einfach zu beantworten sind. Denn hier geht es um eine biblische Regelorientierung, die der menschlichen Autonomie entgegenstehen kann. »Wir stellen uns diesen brisanten Themen und belegen unsere Antworten aus der Bibel«, erklärt ICF-Pastor Schmidt. Für viele der konservativen Positionen, die die Freikirchen einnehmen, gebe es in der Bibel gute Argumente, sagt auch Rauscher. So diene beispielsweise die Enthaltsamkeit vor der Ehe einem höheren Ziel, erklärt der Pastor, sich daran zu halten, sei Erfüllung. Wohingegen es bei Themen wie Abtreibung oder Sterbehilfe um die Frage geht, ob es sich um Tötung handelt. »Es bricht den offenbarten Willen Gottes und stemmt sich damit dagegen, was Gott möchte und damit was gut ist«, heißt es in einem Blog des IC Hamburg über Abtreibung.

Die Christliche Gemeinde in Reutlingen.
Die Christliche Gemeinde in Reutlingen. Foto: Pieth
Die Christliche Gemeinde in Reutlingen.
Foto: Pieth

In der CGR werden die Botschaften deshalb nicht nur dahin gesagt, sondern gelebt. »Wir sind verliebt in Jesus und Verliebte tun oft die verrücktesten Dinge«, betont der Pastor. Auch Lisa Gutsche sieht es so, dass »Werte und Gebote nicht dazu da sind, dass Gott uns einschränken will«. Für sie ergebe es Sinn, sich daran zu halten. Das Leben in der Gemeinde habe für sie extrem positive Auswirkungen. »Wir sind füreinander da, in Freud und Leid«. Dr. Pohl bestätigt, dass Freikirchen oft klare Regeln vertreten - und Antworten geben auf die Frage: »Was ist gut, was ist böse?« Die Gefahr sei dabei jedoch, dass die Antworten zu einfach werden, dass »sie Schwarz-Weiß-Bilder anbieten«.

Klare Regel und Gruppenerlebnisse

Ein weiterer Punkt, warum diese Bewegungen viel Zulauf haben, ist der Zusammenhalt durch die Gemeinschaft, wie ihn auch Lisa Gutsche und Sonja Bauer erleben. Sonja Bauer erfuhr große Unterstützung und Hilfe als ihr erster Mann, über den sie zum ICF kam, schwer erkrankte. Sie selbst sei eigentlich früher eine »reine Landeskirchlerin« gewesen. Aber: »Die Begleitung während dieser Zeit war so wertvoll, es war wie eine Familie«. »Für viele ist diese Gemeinschaft eine große Stütze«, berichtet Dr. Pohl. Aber es kommen auch immer wieder »Aussteiger«, zu ihr, die von einer Abhängigkeit oder sozialem Druck berichten, durch den sie sich eingeengt fühlen.

Schnell kommt da die Frage auf, ob es um eine Sekte handelt - das verneint Pohl. Zwar gebe es immer wieder schwarze Schafe, sagt sie, aber man könne Freikirchen nicht pauschal in eine Schublade stecken. Gefährlich könne es dann werden, wenn Menschen nichts anderes mehr machen, ihre Kontakte rein auf das kirchliche Umfeld beschränken. »Hier haben die Konsumenten aber selbst eine Verantwortung«, betont sie. Sie wünscht sich mehr Aufklärung in den Schulen, damit Kinder Gefahren frühzeitig erkennen können und nicht in eine Abhängigkeit zu rutschen.

Auch der Missionsgedanke gehört bei vielen Freikirchen dazu. »Wenn man Gott erlebt hat, kann man das nicht mehr für sich behalten«, erzählt Rauscher, »der Glaube durchzieht das ganze Leben.« Die ICF gründet immer wieder neue Kirchen, erst im Dezember wurde in Münsingen eine eröffnet, das heißt, die Bewegung wächst weiter. (GEA)