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Warum eine Reutlinger Künstlerin nackte Engel in Kirchen inszeniert

In Schaufenstern des ehemaligen Breuninger in Reutlingen sind im Oktober drei Installationen von Irina Heinzelmann zu sehen. Das neue Projekt der Fotografin sind Engel, die sie an ungewöhnlichen Orten inszeniert.

Vom Model zur Fotografin: Irina Heinzelmann zwischen Motiven ihrer »Natur«-Serie, einem Reißzwecken- und einem Alien-Porträt sow
Vom Model zur Fotografin: Irina Heinzelmann zwischen Motiven ihrer »Natur«-Serie, einem Reißzwecken- und einem Alien-Porträt sowie einem der Engel-Flügel, die sie für aktuelle Shootings gebastelt hat. Foto: Frank Pieth
Vom Model zur Fotografin: Irina Heinzelmann zwischen Motiven ihrer »Natur«-Serie, einem Reißzwecken- und einem Alien-Porträt sowie einem der Engel-Flügel, die sie für aktuelle Shootings gebastelt hat.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN/GOMARINGEN. Irina Heinzelmann fotografiert nackte Models an ausgesetzten Stellen. Auch in Kirchen. Das erscheint ihr passend, da sie Flügel tragen und Engel darstellen sollen. Vergangenen Freitag war sie an einem Ort, der beides verbindet, das Ausgesetztsein und das Kirchliche: Auf der Baustelle der Reutlinger Christuskirche, die gerade zum Diakonischen Zentrum erweitert wird. Die Fotografin und ihr Fotomodell konnten dafür sogar das Außengerüst nutzen. Dafür hatte sie sich vorab Genehmigungen eingeholt. Denn da ihre Models bei dem aktuellen Projekt unbekleidet sind, hat die 31-Jährige schon Aufruhr bei solchen Shootings erfahren. 

So jetzt auch am Tag der Deutschen Einheit: »Schon nach fünf Minuten war die Polizei da«, berichtet sie. Dabei versuche sie im Prinzip nur, »aus einfachen Dingen das Besondere zu kreieren«. So zeigen Frauenporträts ihrer Serie »Ein Stück Natur«, die als erste Einzel-Ausstellung Heinzelmanns im »Wechselnden Wilhelm« im Gerberviertel zu sehen war, Models von Muscheln oder Wurzeln umgeben. Einen Halbakt hat sie mit Reißzwecken übersät - »es hat mindestens drei Stunden gedauert, um die auf das Modell aufzulegen« - oder als »Alien« inszeniert, da sie »ein Riesenfan« der Filmreihe und von Horrorfilmen ist.

Dieses Selbstporträt der Fotokünstlerin Irina Heinzelmann war im April in einer Gruppenausstellung in Aarau zu sehen.
Dieses Selbstporträt der Fotokünstlerin Irina Heinzelmann war im April in einer Gruppenausstellung in Aarau zu sehen. Foto: Frank Pieth
Dieses Selbstporträt der Fotokünstlerin Irina Heinzelmann war im April in einer Gruppenausstellung in Aarau zu sehen.
Foto: Frank Pieth

Ein monochromes Selbstporträt mit einem Kranz aus Schneckenhäusern und das von Zweigen gesäumte Gesicht einer Frau hatte sie vergangenes Jahr zur Gruppenausstellung »Kunst Reutlingen« vom Kunstmuseum und Kunstverein eingereicht. »Die Dame mit Wurzeln« wurde von der Jury ausgewählt und war zwischen 19. Oktober 2024 und 6. Januar 2025 in den Wandel-Hallen zu sehen. Neben Werken so bekannter Künstler wie Henning Eichinger, Wolf Nkole Helzle und Susanne Immer. Ein beachtlicher Erfolg für die Autodidaktin, die weder Kunst noch Fotografie studiert hat und hauptberuflich Konditorin ist.

Beachtliche Erfolge

Die Ausstellung in den Wandel-Hallen »hat mich in die Schweiz gebracht«, erzählt die zweifache Mutter, die mit ihrer Familie erst vor vier Wochen von Reutlingen nach Gomaringen-Stockach umgezogen ist. Ausgewählt unter 140 Künstlern, als erste Reutlingerin, die bei der 4. Auflage der dortigen »Arty-Show« in der Partnerstadt Aarau ausgestellt hat. Dort war ihr Schneckenhaus-Selbstbildnis auf Alu-Dibond im April in einem Schaufenster zu sehen.

»Stadtgesicht Reutlingen« heißt eine von drei Arbeiten, die Irina Heinzelmann derzeit in Breuninger-Schaufenstern zeigt.
»Stadtgesicht Reutlingen« heißt eine von drei Arbeiten, die Irina Heinzelmann derzeit in Breuninger-Schaufenstern zeigt. Foto: Claudia Reicherter
»Stadtgesicht Reutlingen« heißt eine von drei Arbeiten, die Irina Heinzelmann derzeit in Breuninger-Schaufenstern zeigt.
Foto: Claudia Reicherter

»Meine Mutter würde sagen, ich bin mit nem Pinsel geboren worden«, sagt Irina Heinzelmann über ihren künstlerischen Werdegang. Nach Malkursen erkannte sie: »Es geht mir hauptsächlich ums handwerkliche Schaffen.« Verstärkt geht sie der künstlerischen Neigung erst seit zwei Jahren nach.

Mit ihrer Lumix-Kamera arbeitet sie bevorzugt mit dezentem oder natürlichem Licht. Die Technik hat sie von einem befreundeten Fotografen gelernt, Kontakte zu Models stammen aus der Zeit, da sie selbst vor der Kamera stand. Mit jedem Projekt lernt sie dazu, tauscht sich mit Künstlerkollegen und -kolleginnen aus, freut sich über Anregungen und Tipps. Wichtig ist ihr: »Ich schieße nicht ins Blaue, sondern habe immer ein Konzept.« Nur »sehr ungern« gehe sie »mit null Plan auf ein Projekt zu«. Und die Models müssen jeweils dahinterstehen. Die Konzepte »kommen aus mir«. Dabei frage sie sich: Was finde ich bei mir? Wie kann ich das nach Außen tragen? Auf meine Art, in Bezug auf meine Stadt?

Drei Schaufenster

Was sie in sich und in der Stadt gefunden hat, gibt sie derzeit sprichwörtlich zurück: in drei Installationen in Schaufenstern des ehemaligen Kaufhauses Breuninger am Marktplatz. Auch da hatte die einstige Schülerin der Laura-Schradin-Schule, die zunächst Ausbildungen in Hauswirtschaft und Pflege gemacht hat, eine Ausschreibung genutzt - und Mitte September den Zuschlag für den Monat Oktober bekommen. Das Objekt, mit dem sie sich beworben hatte, nennt sie ein »Müllporträt«. Weil sie für »ein Jahr Reutlinger Stadtgeschichte« steht, heißt die 90 mal 80 Zentimeter große Installation »Stadtgesicht Reutlingen«. Dafür beklebte sie einen mit Bauschaum gefüllten Maschendraht-Kopf mit Abfällen, die sie über zwölf Monate hinweg bei Festen und Demos, in der Pomologie, im Stadion, in Gassen, auf Spielplätzen, an Bushaltestellen, an Schulen und auf der Achalm gesammelt hatte.

Die Installation  »Meine Engel« von Irina Heinzelmann in einem der im Oktober von ihr gestalteten Breuninger-Schaufenster.
Die Installation »Meine Engel« von Irina Heinzelmann in einem der im Oktober von ihr gestalteten Breuninger-Schaufenster. Foto: Claudia Reicherter
Die Installation »Meine Engel« von Irina Heinzelmann in einem der im Oktober von ihr gestalteten Breuninger-Schaufenster.
Foto: Claudia Reicherter

Da ihr drei Fenster zur Verfügung standen, bestückte sie zudem eine Schublade mit zwei Silhouetten. Indem sowohl das männliche als auch das weibliche Profil mit gängigen Vorurteilen übers jeweilige Geschlecht ausgefüllt sind, stehe das Objekt für »Schubladendenken«. Im dritten Fenster stellt sie ihr Engel-Projekt vor, umrahmt von bewegten Papierbändern.

Spannende Shootings

Vor dem »Engel«-Shooting in der Christuskirche schwärmte die 31-Jährige, »ich liebe Sondergenehmigungen!«, war aber auch nervös. Was, wenn das Model doch nicht  schwindelfrei ist? Vorabbesuche auf der Baustelle hatten sie so mit Energie und Leidenschaft aufgeladen, dass sie das durchziehen wollte. Wenn man an Engeldarstellungen in der Kunstgeschichte und an Putten denkt, sind weder Kunst noch Kirchen frei von Nacktheit, erklärt sie. »Ich versuche, den Glauben mit einzubauen, und spreche damit ja eher für die Kirche.« Sie wolle niemanden provozieren.

Eine der Aufnahmen, die im Rahmen von Irina Heinzelmanns Foto-Serie »Engel« entstanden sind.
Eine der Aufnahmen, die im Rahmen von Irina Heinzelmanns Foto-Serie »Engel« entstanden sind. Foto: Irina Heinzelmann
Eine der Aufnahmen, die im Rahmen von Irina Heinzelmanns Foto-Serie »Engel« entstanden sind.
Foto: Irina Heinzelmann

Dennoch gingen auch in den vier Stunden am 3. Oktober zahlreiche Anrufe bei der Polizei ein. Anwohner und Passanten befürchteten illegales Eindringen auf der Baustelle. Doch da sie die Erlaubnis schriftlich hatte, zog die Polizei zweimal wieder ab.

Schon bei vorherigen »Engel«-Shootings hatte es Gegenwind gegeben. Von Kirchengemeinden wurden ihre Anfragen zwar zu 90 Prozent ignoriert, doch aus Gruorn kam »eine wütende Rückmeldung«. Das Ansinnen sei geschmacklos, skurril und obszön. »Wenn ich als Künstlerin Frauen als Engel inszenieren will, rechne ich mit ablehnenden Reaktionen. Aber dass es beleidigend und persönlich wird, war mir neu.«

Aufhalten konnte sie das nicht. »Dass die Modelle mitziehen, spornt mich an. Jetzt erst recht«, dachte sich die Reutlingerin und nutzte Zusagen fürs Schloss Ravenstein und ein verlassenes Frauenkloster bei Heilbronn. Auch die Stadt Tuttlingen unterstützte sie beim Fotografieren auf der Burgruine Honberg, leitete sogar einen Wanderweg um. Aber da das stark tätowierte Model im Turm mit den großen Flügeln weithin sichtbar war, alarmierten Bürger auch dort die Polizei. Da passiere etwas, das sei sicher nicht rechtens. Die Behörden gaben Entwarnung: Es war alles genehmigt.

Was kommt als Nächstes? Die Nachfahrin der Reutlinger Schumacher-Familie, die 1993 in Kasachstan geboren wurde, aber schon mit zwei Jahren zurück in die Heimat ihrer Mutter kam, freut sich über die Zusage des Grundstücksbesitzers einer verlassenen Tankstelle im Nachbarort Immenhausen, um dort Fotos zu schießen. Zudem will sie sich dem Thema »Wasser« widmen. »Ich habe einen Ordner voll unausgearbeiteter Ideen«, erklärt Irina Heinzelmann. Im Moment fühle sich alles fantastisch an. »Ich habe das Gefühl, ich bin genau da, wo ich sein soll.« Als Autodidaktin genießt sie es, bei ihrer künstlerischen Arbeit völlig frei zu sein. (GEA)