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Aktuell Tarifkonflikt

Warnstreiks in Reutlingen: Was Arbeitgeber dazu sagen

In der dritte Streikwoche im Öffentlichen Dienst haben rund 500 Menschen auf dem Reutlinger Marktplatz demonstriert. Was Arbeitgeber zu den Konsequenzen der Forderungen sagen.

Dem Wetter trotzen laut Verdi rund 500 Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes bei der Demonstration zum Warnstreik auf dem Reutl
Dem Wetter trotzen laut Verdi rund 500 Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes bei der Demonstration zum Warnstreik auf dem Reutlinger Marktplatz. Sie fordern deutlich mehr Geld und Zeitsouveränität.. Foto: Stephan Zenke
Dem Wetter trotzen laut Verdi rund 500 Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes bei der Demonstration zum Warnstreik auf dem Reutlinger Marktplatz. Sie fordern deutlich mehr Geld und Zeitsouveränität..
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Beim Geld hört die Freundschaft auf – oder ist es eher die Vernunft? Kommt auf die Perspektive an! Zum Höhepunkt der dritten Arbeitskampfwoche im Öffentlichen Dienst versammeln sich am Donnerstag laut Verdi 500 Streikende auf dem Reutlinger Marktplatz. Sie wollen mehr Gehalt und Zeitsouveränität. Auf der anderen Seite machen sich die kommunalen Arbeitgeber Sorgen, welche Konsequenzen ein aus ihrer Sicht zu teurer Tarifabschluss haben könnte. Womit sich die Frage stellt, ob wie von Verdi gewünscht »Zusammen geht mehr« gilt, oder am Ende bei Bürgerinnen und Bürgern weniger bleibt.

Eine Entgelterhöhung im Volumen von acht Prozent plus drei zusätzliche freie Tage und ein »Meine-Zeit-Konto« – nur ein Auszug aus den Forderungen in der laufenden Tarifrunde – hält Jakob Becker, Verdi-Landesfachbereichsleiter für Gesundheit und soziale Dienste, bei der Demonstration zum eintägigen Warnstreik für »mehr als gerechtfertigt«. Er nennt unter dem Beifall der mit Regenschirmen, Trillerpfeifen und gelben Warenwesten versammelten Menschen einige Beispiele für die vielfältigen Leistungen der Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes. »Keiner von uns will es erleben in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden, wo es keine Pflegekräfte gibt«, sagt der Gewerkschafter. Es gehe um die Attraktivität des Öffentlichen Dienstes. Wenn man alle zwei Jahre für bessere Arbeitsbedingungen streiken müsse, dürfe sich eigentlich niemand beklagen: »Wir brauchen diese Menschen, damit unser Staat funktioniert«.

Die Verdi-Forderungen im Überblick

Verdi fordert insgesamt acht Prozent Entgeltsteigerung, mindestens aber 350 Euro bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Vor allem für die Kollegen, die in Schicht oder nachts arbeiten oder andere belastende Tätigkeiten haben, fordert die Gewerkschaft eine deutliche Erhöhung der Zuschläge.

Azubis, dual Studierende und Praktikanten sollten 200 Euro pro Monat mehr erhalten. Außerdem fordert Verdi eine unbefristete Übernahme in Vollzeit im erlernten Beruf.

Um »der hohen Verdichtung der Arbeit etwas entgegenzusetzen«, will die Gewerkschaft drei zusätzliche freie Tage für alle. Gewerkschaftsmitglieder sollten einen zusätzlichen freien Tag erhalten.

Als »Innovation im öffentlichen Dienst« möchte Verdi ein »Meine-Zeit-Konto« durchsetzen. Mit diesem neuen Konto könne jeder am Ende eines Monats selbst entscheiden, »ob Du das Guthaben ausgezahlt haben, die wöchentliche Arbeitszeit verkürzen oder zusätzliche freie Tage willst oder ob Du das Guthaben für eine längere Auszeit ansparen möchtest. Buchen kannst Du auf das Konto Entgelterhöhungen, zusätzliche freie Tage, Zuschläge und Sonderzahlungen«. Wenn es bereits Gleitzeitreglungen oder Arbeitszeitkonten gibt, müssten sie angepasst werden. (pr)

www.verdi.de

Mit Blick auf die nahende Bundestagswahl ruft Becker dazu auf, »demokratische Parteien zu wählen«. Denn »Demokratiefeinde« hätten etwas »gegen den Mindestlohn, Tariftreue und vieles mehr. Rechte Parteien stehen für eine ungerechte Verteilung zwischen Arm und Reich«. Im Bezug auf die aktuelle Verhandlungsrunde meint der Gewerkschaftsfunktionär, »die Arbeitgeber werden uns sagen, das geht alles gar nicht. Aber wenn man Fachkräftemangel hat, muss man doch etwas machen«. Festzustellen bleibe: »Das Einzige, was die Arbeitgeber am Verhandlungstisch bewegt, ist Streik«.

»Wir brauchen diese Menschen, damit unser Staat funktioniert«

In Sichtweite vergeht im Rathaus Reutlingens Erstem Bürgermeister Robert Hahn sein sonst übliches Lachen, wenn er auf die Verdi-Forderungen angesprochen wird. Dabei stellt er zunächst klar, dass er keinesfalls irgendwas gegen eine angemessene Bezahlung der kommunalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat. »Bei der letzten Tarifrunde 2023 habe ich die hohen Abschlüsse für richtig gehalten. Es galt Reallohnverluste zu vermeiden«, sagt er. Es wäre auch nicht erklärbar gewesen, deutlich niedriger abzuschließen als alle anderen Branchen. Die daraus resultierenden Folgen für den Haushalt rechnet der Verwaltungsbürgermeister präzise vor.

»Die Forderung von Verdi ist eine starke Form von Ignoranz«

Bereits jetzt belaufen sich laut Hahn die nach dem Tarifabschluss 2023 höheren Personalkosten pro Jahr auf 133,4 Millionen Euro – nur bei der Stadtverwaltung selbst. 2023 waren es noch 121,9 Millionen Euro. Mit den aktuellen Forderungen von Verdi, »die für mehr als die Hälfte unserer Mitarbeiter mehr als acht Prozent wäre«, würde dies über den Daumen gepeilt weitere »rund 14 Millionen Euro mehr« ausmachen. Jede Million mehr bedeute »einen noch härteren Sparkurs, der natürlich auch das Personal treffen würde. Es wird durch die Stellenbesetzungssperre Arbeitsverdichtungen geben«, warnt Hahn. Steigende Personalkosten könnten »nur über Ausgabenreduzierung finanziert werden«. Das Argument, es gehe um eine Stärkung des Öffentlichen Dienstes, sieht Robert Hahn kritisch: »Wir sind ein attraktiver Arbeitgeber. Müssen aber zur Kenntnis nehmen, das wir uns von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nicht abkoppeln können«. Deutschland befinde sich im vierten Jahr in Folge in einer Rezession, »die Zeit, wo wir uns mehr leisten konnten, ist vorbei – zumindest vorläufig«. Nach der Einordnung der Verdi-Wünsche gefragt, überlegt der Verwaltungschef lange. Dann kommt er zur Schlussfolgerung, »die Forderung von Verdi ist eine starke Form von Ignoranz. Weil völlig ausgeblendet wird, was in unserem Land gerade geschieht«.

Streiken macht keinen Spaß, ist den Gesichtern anzusehen. Aber die Beschäftigten wollen ihren Forderungen vor der kommenden Tari
Streiken macht keinen Spaß, ist den Gesichtern anzusehen. Aber die Beschäftigten wollen ihren Forderungen vor der kommenden Tarifrunde Nachdruck verleihen. Foto: Stephan Zenke
Streiken macht keinen Spaß, ist den Gesichtern anzusehen. Aber die Beschäftigten wollen ihren Forderungen vor der kommenden Tarifrunde Nachdruck verleihen.
Foto: Stephan Zenke

Die Stadt Reutlingen habe »ein Einnahmenproblem, kein Ausgabenproblem – das muss über Wirtschaftswachstum gelöst werden.« Richtig sei, »das wir verschiedentlich Aufgaben kriegen, die nicht ausfinanziert sind«. Aber selbst wenn es dafür genug Geld von Bund oder Land geben würde, »ginge es nicht direkt ins Personal«. Wo also wird die Stadt sparen, falls die Tarifrunde für erhebliche Mehrkosten sorgt?

»Die Investitionstätigkeit wird weiter reduziert werden müssen«, beginnt Hahn aufzuzählen, »wir müssen Maßnahmen weiter schieben«. Doch auch in anderen Bereichen sei es sehr wahrscheinlich, dass der Sparkurs direkt bei Bürgerinnen und Bürgern ankomme – wo genau, da möchte sich Hahn nicht festlegen. Er ist sich jedoch gewiss, »wir werden an keiner Stelle, wo wir sparen müssen, auf Verständnis stoßen«. Sein Wunsch für einen Tarifabschluss: »vermeiden von Reallohnverlusten – 2,2 Prozent und nicht mehr«.

Die grundsätzliche Tragweite jedes Tarifabschlusses im Öffentlichen Dienst macht Timo Vollmer als Geschäftsführer der RAH Reutlinger Altenhilfe klar. »Das betrifft nicht nur uns, sondern nach dem Tariftreuegesetz auch andere Träger«. Von Entgelterhöhungen würden bei der RAH praktisch alle 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter profitieren. »Ich finde es wichtig, dass wir weiterhin ordentliche Tarifsteigerungen bekommen«, betont Vollmer. Um anschließend festzustellen, »die Pflege hat kein Vergütungsproblem, sondern ein Imageproblem«.

Eine nach drei Jahren examinierte Pflegefachkraft bekomme ab dem ersten Monat 3.800 Euro brutto in Vollzeit, »das ist eine ordentliche Vergütung«. Womit der Geschäftsführer dem weitverbreiteten Vorurteil von miserabel bezahlten Pflegekräften entschieden widerspricht. »Wenn die Verdi-Forderung so käme, waren das 4.100 Euro plus mehr Freizeit«, rechnet er vor.

»Jede Gehaltssteigerung bedeutet höhere Preise für Bewohner«

»Diese Gehaltsforderung halte ich für zu hoch«, betont Vollmer. Letztlich müsse klar gesagt werden: »Jede Gehaltssteigerung mündet sofort in höhere Preise für die Bewohner«. Und dies bei Tarifen, die schon heute im Durchschnitt über alle Häuser der RAH für »30 bis 40 Prozent Sozialhilfeempfänger« sorgten, »Tendenz steigend«. Wiederholt sagt der RAH-Chef, er stehe für ordentliche Bezahlung, wünsche sich auch »Vergütungsgleichheit zwischen Krankenhaus und Pflegeeinrichtungen«. Seiner Meinung nach solle das Gehalt »etwas über der Inflationsrate wachsen«. Sehr kritisch sehe er auch die Forderung nach einer geringeren Jahresarbeitszeit, »wir haben in unserer Branche einen Personalmangel in allen Bereichen«. Der Tarifvertrag gebe schon heute »viel Spielraum für geregelte Freizeit«. In der RAH werde »konsequent in der 5-Tage-Woche gearbeitet«. Langfristig sieht Timo Vollmer nur eine Lösung der Finanzprobleme: »Eine Pflegeversicherung, die den Eigenanteil deckelt«.

Zurück zum aktuellen Tarifkonflikt: Die erste Runde in den Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen ist 24. Januar ohne Ergebnis vertagt worden. Die Verhandlungen gehen am 17. Februar weiter. (GEA)