REUTLINGEN. Wer »schon wieder wollen die mehr Geld« denkt, hat laut Gewerkschaft Verdi zu wenig nachgedacht. Zum Auftakt der Tarifrunde im öffentlichen Dienst hat die Gewerkschaft im Bezirk Fils-Neckar-Alb ihre Forderungen in Reutlingen erklärt, die den Arbeitgebern angesichts notleidender Haushalte große Sorgen bereiten - wer soll das bezahlen? Die Verdi-Wunschliste für die erste Verhandlungsrunde Ende dieser Woche umfasst Entgelterhöhungen im Volumen von acht Prozent - also keine durchgängige Lohnerhöhung um diesen Wert - sowie umfangreiche Verbesserungen für die Beschäftigten beim Thema Arbeitszeit. Eine schnelle Einigung mit den Arbeitgebern ist nicht zu erwarten. Stattdessen sind Warnstreiks so gut wie sicher.
Wie Verdi auf die Idee kommt, in die leeren Hosentaschen der öffentlichen Arbeitgeber greifen zu wollen, beantwortet Benjamin Stein als Geschäftsführer des Bezirks Fils-Neckar-Alb. Zunächst müsse man feststellen, dass die Bundes- und Landespolitik mit immer neuen von Städten und Kommunen zu erbringenden Leistungen ohne entsprechende Gegenfinanzierung an der desolaten Haushaltslage schuld sei. Außerdem gebe es erfreuliche Schätzungen von steigenden Steuereinnahmen. Vor allem spürten die Beschäftigten immer stärker die Folgen von unbesetzten Stellen und Personalknappheit. »Wir müssen in die Menschen im öffentlichen Dienst investieren, um sie zu halten«, betont Stein. Dementsprechend seien die Tarifforderungen auf die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen abgestimmt.
Die Erhöhung der Entgelte im Volumen von acht Prozent solle nicht für alle eine gleichlautende Gehaltserhöhung bedeuten. Stattdessen listet Verdi je nach Aufgabenbereich höhere Zeitzuschläge oder Wechselschichtzulagen auf. Beispielsweise wird eine deutlich bessere Bezahlung von Nacht- oder Sonntagsarbeit gewünscht. Zur Motivation des Nachwuchses möchte Verdi 200 Euro monatlich mehr für Auszubildende sowie nach erfolgreichem Abschluss eine unbefristete Übernahme in ein Vollzeit-Arbeitsverhältnis. Um Lebenszeit geht es bei den Tarifforderungen ebenfalls.
»Alle arbeiten immer mehr - und die Spitzen werden nicht mehr abgebaut«, klagt Stein. Der Arbeitskräftemangel schlage voll durch. Damit wieder mehr Menschen zufrieden und gesund arbeiten können, gleichzeitig der öffentliche Dienst als Arbeitgeber attraktiv bleibe, schlägt Verdi ein »Meine-Zeit-Konto« vor. Es soll Mitarbeitern die Wahl zwischen mehr Geld, zusätzlichen freien Tagen oder Überstunden und mehr ermöglichen. Im Kern gehe es darum, »einen Teil der Zeitsouveränität zurückzugeben«. Etwas mehr Geld und mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten seien im Interesse aller Bürger. Denn der öffentliche Dienst sei die wesentliche Daseinsvorsorge - von der Wiege bis zur Bahre. Von ihren Forderungen seien die Gewerkschafter in der Region mehr als überzeugt.
»Wir haben dauerhafte Unterbesetzung, keine Krankenvertretungen, Mehrarbeit und Stress«, berichtet Lisa Schwend als pädagogische Fachkraft einer Kindertagesstätte. »Es ist extrem wichtig, dass die Menschen attraktive Arbeitsbedingungen bekommen«, meint Martina Raiser als Personalratsvorsitzende der Reutlinger Stadtverwaltung. »Bei den Sparkassen jagt ein Rekordergebnis das andere. Wir haben einen massiven Arbeitskräftemangel. Manche Filialen müssen deshalb geschlossen bleiben«, sagt Ulrich Bühler in seiner Funktion als stellvertretender Personalratsvorsitzender der Kreissparkasse Tübingen, »für niedrige Tarifabschlüsse gibt es keine sachliche Begründung«. Durch Personalmangel häufig Rufbereitschaft machen zu müssen, sei auf Dauer nicht attraktiv, warnt Jakob Scheuble als Betriebsgruppensprecher der Stadtentwässerung Reutlingen (SER). »Daseinsvorsorge treibt uns um«, ist dem Betriebsratsvorsitzenden der Stadtwerke Reutlingen, Bertram Schielke, ganz wichtig.
Die interne Diskussion der Forderungen läuft bei Verdi seit einem halben Jahr. Bei Befragungen der Belegschaften habe sich eine hohe Zustimmung gezeigt. »Wir haben doppelt soviele Unterschriften wie vor zwei Jahren«, betont Stein. Bei der ersten Verhandlungsrunde am Freitag, 24. Januar, in Potsdam ist keine Einigung zu erwarten. »Wir werden zwischen der ersten und zweiten Verhandlungsrunde Warnstreiks machen«, kündigt Stein an. Das bedeutet, bis zum 17. Februar kann es lokal zu entsprechenden Arbeitskampfmaßnahmen mit Ankündigung kommen. (GEA)