REUTLINGEN. Sieger und Verlierer, Wiedergewählte, Gescheiterte und Parlamentsneulinge, alte Politik-Hasen und erfolgreiche Debütanten: So unterschiedlich wie die Kandidaten war auch die Stimmung auf den Wahlpartys in der Reutlinger Innenstadt. Die einen mussten stundenlang zittern, ob es reicht, die anderen ließen schon kurz nach 18 Uhr die Sektkorken knallen.
Die Linke im S-Haus
So überschäumend wie der Sekt in den Gläsern ist die Freude bei der Linken. »Die Anne hat ein Mandat«, ruft Rüdiger Weckmann begeistert in die Menge. Gefeiert wird sehr passend im S-Haus, dem Restaurant für Menschen, die sich sonst kein anständiges Essen leisten könnten. Weckmann, Gemeinderat und einer der ganz langjährigen Linken in der Stadt, spricht vom »politischen Comeback des Jahres«. Nach der Abspaltung des Bündnis Sarah Wagenknecht sei vieles ungewiss gewesen. Umso erfreulicher zu bemerken, wie sich die Zahl der Mitglieder im Reutlinger Kreisverband innerhalb weniger Wochen auf 174 nahezu verdoppelt habe.
»Wir haben gezeigt, dass Politik von unten bei den Menschen ankommt«, sagt die neue Bundestagsabgeordnete Anne Zerr noch strahlender als sie ohnehin schon ist, »nie war ich stolzer in dieser Partei zu sein«. Jubel und Beifall von allen Tischen. Sie wolle in Berlin, »gemeinsam für eine soziale Politik und eine gerechte Gesellschaft kämpfen«. Dabei niemals vergessen, woher sie kommt und wer ihr zu diesem Mandat verholfen hat: Die einfachen Menschen. Die junge Gewerkschaftssekretärin macht ebenfalls klar, wofür sie beispielsweise standfest stehen möchte, »wir werden nicht zulassen, das gehetzt wird«. Und dann ergreift nochmals Weckmann kurz das Wort, während im Hintergrund auf dem Bildschirm Friedrich Merz erscheint, aber kaum wahrgenommen wird. »Wir sind aus Ruinen auferstanden. Die Linke ist wieder da. Alle wollen regieren - wir wollen verändern«.
CDU im Maxx-Café
Direkt von einer Faschingsveranstaltung in Oberstetten ist Michael Donth zur CDU-Wahlparty nach Reutlingen ins Maxx-Café gekommen. Dort feiert er mit gut 80 Parteifreunden und Unterstützern, den ganzen Abend über ist ein Kommen und Gehen. »Ich erwarte, dass wir deutlich aus dieser Wahl als Wahlsieger hervorgehen, ich erwarte ein Ergebnis mit einer drei vorne«, sagt Donth gleich zu Beginn. Die Prognosen und ersten Hochrechnungen sind dann doch nicht so toll, bleiben unter 30 Prozent. Gedämpfte Stimmung unter den Christdemokraten im Blick auf das Bundesergebnis. Zuversichtlich zeigt sich Donth von Anfang an hingegen, sein Direktmandat zu verteidigen und auch seinen Sitz im Bundestag durch ein gutes Erststimmenergebnis zu behalten. Eine Zuversicht, die sich dann im Wahlkreis bestätigen soll: Donth kann sein Ergebnis von 2021 toppen und erheblich ausbauen. Im Blick auf eine zukünftige Regierung sagte Donth, sein Wunschziel sei keine Dreierverbindung, »aber man muss natürlich sehen, mit wem wir die meisten Punkte unseres Programms umsetzen können.« Klar sei, »dass unser Land jetzt eine Regierung braucht«. Heftige Kritik übt Donth am neuen Wahlrecht, das koste gerade in Baden-Württemberg zwischen sechs und acht Direktmandate. »Das ist eine Pervertierung der Demokratie.«
Die Grünen in Luis Coffee
»Es wäre schön, wenn es klappen würde«, sagt Jaron Immer vor der ersten Hochrechnung, »aber im Vorfeld ist einfach vieles noch unklar«. Ein bunt gemischtes Publikum hat sich in Luis Coffee versammelt, altgediente Politiker ebenso wie junge Grüne, die zum ersten Mal in einem Wahlkampf aktiv waren, schauen gespannt auf zwei Bildschirme. Immers Listenplatz, Nummer 17, bedeutet für die Grünen im Wahlkreis eine Wackelnummer: Ab 14,5 Prozent könnte es interessant werden, also mit dem Einzug in den Bundestag klappen. Die erste Prognose des Abends dämpft diese Erwartungen jedoch sogleich: 13,5 Prozent - das ist zu wenig. »Ach nö, oder?«, stöhnt eine Besucherin auf. Wenig später ist klar: das Bundestagsmandat der Grünen im Wahlkreis ist verloren. Die Kategorien, in denen die Grünen landen würde, waren klar, aber man habe sich natürlich ein wenig mehr erhofft, erklärt der junge Kandidat Immer. Beate Müller-Gemmeke, die nach 16 Jahren im Bundestag nicht mehr antreten wollte, war ebenfalls klar: »Das wird wacklig.« Die Verluste der Partei sind dennoch relativ klein, die Grünen sind der Ampelpartner, der am wenigsten Federn lassen musste. Was Jaron Immer besonders freut, ist sein Erststimmenergebnis, das über dem der Zweitstimmen liegt - beachtlich für einen Kandidaten, der zum ersten Mal antritt.

SPD im Alexandre
»Ich hatte das Ergebnis befürchtet«, sagt SPD-Kandidat Sebastian Weigle. Die Genossen treffen sich im »Alexandre«, ein bitterer Abend für die Wahlkämpfer und Mitstreiter. »Ich hatte das in den letzten Wochen natürlich schon gemerkt, dass wir einen Kanzler-Malus haben. Die Leute haben uns offen gesagt, dass sie ein Problem haben mit Olaf Scholz.« Der Kanzler habe unterschätzt, wie stark das Scheitern der Ampel mit ihm und seiner Person verbunden wird. »Wir hätten uns sicher eine zwei vor dem Ergebnis gewünscht. Das ist uns nicht gelungen.« Es sei ein außerordentlich schwieriges Ergebnis für die SPD, sagt Weigle. Und dennoch: Angesichts der Tatsache, dass die CDU einen Koalitionspartner braucht, könnten die Sozialdemokraten trotz der Niederlage wieder mitregieren. »Die SPD muss aber trotz allem schauen, wie sie sich erneuert. Wir können ja nicht wegdiskutieren, dass die AfD auch erheblich in SPD-Wählerschaften eingedrungen ist. Und es ist uns nicht gelungen, die Leute davon zu überzeugen, dass wir auch in schwierigen Zeiten den Zusammenhalt organisieren können.« Das Land brauche jetzt stabile Verhältnisse und dies sei eine Herkulesaufgabe. Weigle selbst geht ab Montag wieder in seinen Job, »und dann habe ich mein Ehrenamt als AWO-Vorsitzender«.
AfD
»Mit 20 Prozent sind wir nicht zufrieden«, sagt Rudolf Grams als Direktkandidat der AfD im Wahlkreis Reutlingen. Für ihn ist klar, dass er nicht im zukünftigen Bundestag sitzen wird. Die Kandidatur habe ihm aber »Spaß gemacht«. Jetzt zähle ein gutes Abschneiden bei der kommenden Landtagswahl. So richtig Partystimmung kommt also nicht im Nebenraum einer Lokalität auf, die die AfD geheim hält, »um den Wirt zu schützen«. Auch Herbert Gah können als Sprecher des Reutlinger Kreisverbandes der AfD die Zahlen des Wahlabends kaum begeistern. »Ich habe immer gesagt: Wir müssen über 20 Prozent kommen«. Von der Regierungsbildung hat Gah eine klare Vorstellung, »der Merz wird mit den Grünen ins Bett. Wenn das nicht reicht, sind die Roten mit dabei«. Mit dem Wahlkampf seiner Partei ist der Kreissprecher zufrieden. Man habe über 30.000 Flyer verteilt und viel Zuspruch erhalten. Kandidat Grams hat »eine Aufbruchsstimmung« erkannt, und ergänzt: »Was mich erstaunt hat, dass sich die Attentate nicht auf die Prognosen ausgewirkt haben«. Erfreuliches habe es freilich auch gegeben, »das Interview von Herrn Musk mit Frau Weidel hat mir sehr gefallen«. Die Mitgliederzahlen des Kreisverbandes hat die AfD nach eigenen Angaben auf 200 Menschen »stark gesteigert«.
FDP im Reutlinger Weinladen
»Es war klar, dass es knapp wird«, sagt der FDP-Bundestagsabgeordnete Pascal Kober mit Blick auf die Hochrechnungen, »aber ich habe gehofft, dass es nicht so knapp wird«. Es ist 19 Uhr: Die FDP steht genau auf 5,0 Prozent. »Fünf Prozent sind fünf Prozent«, sagt die Stadtverbands-Vorsitzende Sarah Zickler voll Zuversicht - damit wäre die FDP im Bundestag vertreten, inklusive Pascal Kober. Allerdings ist das letzte Wort zu diesem Zeitpunkt längst nicht gesprochen. Kurz darauf sind es noch 4,9 Prozent - und damit wäre die FDP raus, Kober ohne Mandat. Die Stimmung im Reutlinger Weinladen ist gespannt, aber weiterhin optimistisch, alle haben sich auf einen langen Abend eingestellt. »Es war schon öfter knapp«, sagt ein routinierter Wahlkämpfer während er die Hochrechnung verfolgt, »die FDP ist was für starke Nerven«. Als er das erste Mal zum Bundestagsabgeordneten gewählt wurde, habe er seine Wahlparty ebenfalls hier gefeiert, erzählt Kober, und hofft nun, dass ihm die Location auch 2025 Glück bringt. Dem scheint nicht so. Um 21 Uhr sieht es schlecht aus für die Liberalen - sie sind auf 4,7 Prozent gesunken, der Wahlkrimi neigt sich dem Ende entgegen, der Einzug in den nächsten Bundestag ist für die Freie Demokratische Partei gescheitert.
BSW im Reutlinger Büro von Jessica Tatti
Das bekannteste Gesicht des BSW in der Region, Jessica Tatti, ist am Wahlabend nur als Videobild in ihrem Reutlinger Büro zu sehen. »Sie hat sich eben zugeschaltet und sich bei allen Unterstützern bedankt«, sagt André Backe als Beisitzer im Landesvorstand des jungen Bündnisses. Angesichts der den Abend über knappen Prozentzahlen, die für das BSW einen Einzug in den Bundestag zur Zitterpartie werden lassen, sei Tatti »zuversichtlich, dass es noch etwas wird«. Aber, betont Backe: »Die Stimmung ist gut. Wir rechnen fest mit unserem Einzug«. Ungeachtet dessen »werden wir mit Sicherheit weitermachen«, meint Michael Jäger als Kandidat auf der Landesliste. Wieso Tattis Porträt nicht auf Plakaten in der Region zu sehen gewesen ist, erklärt Backe mit »organisatorischen Fragen. Es wäre nicht möglich gewesen«. Den Wahlerfolg der Linken möchten die Bündnisgetreuen nicht kommentieren. Stattdessen sagen sie: »Wir können zu dem stehen, was wir gemacht haben«. (GEA)