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Aktuell Prozess

Wäre das Sickenhäuser Unglück vermeidbar gewesen?

Im Juli 2022 wurde ein Mann bei Sanierungsarbeiten im Alten Feuerwehrhaus in Sickenhausen tödlich verletzt. Der damalige Vorsitzende des Fördervereins stand jetzt wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Der Prozess wirft eine grundlegende Frage auf.

Ort eines tragischen und tödlichen Unfalls: Das Alte Feuerwehrhaus in Sickenhausen, das zum Kultur- und Bürgerhaus umgebaut wird
Ort eines tragischen und tödlichen Unfalls: Das Alte Feuerwehrhaus in Sickenhausen, das zum Kultur- und Bürgerhaus umgebaut wird. Foto: Frank Pieth
Ort eines tragischen und tödlichen Unfalls: Das Alte Feuerwehrhaus in Sickenhausen, das zum Kultur- und Bürgerhaus umgebaut wird.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN-SICKENHAUSEN. »Es tut mir unheimlich Leid. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke.« Der Mann, der an diesem Donnerstag auf der Anklagebank im Reutlinger Amtsgericht sitzt, spricht leise aber klar. Und man sieht ihm förmlich an, wie nah ihm die Sache geht. Er ist angeklagt wegen fahrlässiger Tötung. Ihm wird vorgeworfen, dass er seine Sorgfaltspflicht als Vereinsvorsitzender verletzt hat - und dass deshalb ein Mann tödlich verunglückt ist. Doch so eindeutig, wie sich das auf dem Papier liest, ist die Sache bei weitem nicht.

Es ist der 2. Juli 2022, ein Samstagmorgen, als fünf Männer in der Alten Feuerwache in Sickenhausen zum Arbeitseinsatz antreten. Sie sind Mitglieder des Fördervereins Ortskern Sickenhausen, der 2015 mit dem Ziel gegründet wurde, die Feuerwache in ein Bürgerhaus umzumünzen. Die Kulturwache soll ein Ort der Begegnung fürs ganze Dorf werden. Da die Stadtkasse leer ist und das Projekt viel Geld kostet, stemmt der harte Kern des Fördervereins viele Sanierungsarbeiten in Eigenleistung.

An diesem Tag steht der Abbruch einer nicht-tragenden Wand im Innenraum auf dem Programm. Der Arbeitseinsatz endet tragisch. Ein 42-jähriger Mann wird beim Versuch, die Wand für den Abbruch vorzubereiten, von einem herabstürzenden Betonträger getroffen. Er erliegt wenige Tage später seinen schweren Verletzungen. In der Anklageschrift ist von »nicht fachmännischem Vorgehen« an diesem Tag die Rede. Doch hätte jemand das Unglück verhindern können? Und wenn ja: wer?

»Wir wussten nicht, welches Steinmaterial dort verwendet wird«

Drei Monate vor dem Unfall fand eine Besprechung zwischen Architekt, Statiker, dem angeklagten Ex-Vereinsvorsitzenden und dem damaligen Bezirksbürgermeister Frank Zeeb, ebenfalls Vereinsmitglied, statt. Der Architekt sagt an diesem Donnerstag vor dem Amtsgericht aus: »Wir wussten nicht, welches Steinmaterial dort verwendet wird.« Auf die alten Baupläne habe man sich nicht verlassen wollen. Also habe er angeordnet, dass die Vereinsmitglieder zunächst einmal sogenannte »Suchschlitze« in die Wand schlagen sollen. Das sind kleine Kerben, mit deren Hilfe man erkennt, aus welchem Material die Wand ist. Der Statiker sagt: »Es wurde kommuniziert, dass vor dem endgültigen Abbruch der Bauleiter, also der Architekt, informiert werden muss.« Doch das ist nie geschehen ...

Beim Angeklagten und bei Ex-Bezirksbürgermeister Zeeb hört sich die Sache anders an. »Von Suchschlitzen hab' ich erst nach dem Unglück gehört«, sagt der ehemalige Vorstand. Der Architekt habe noch am Tag der besagten Besprechung Abbruchkanten an die Wand gemalt. »Und damit hatten wir das Go für den Abbruch«, sagt Zeeb. Die Versionen gehen auseinander. Wer wusste was? Wer hat versäumt, etwas zu kommunizieren? Und: Hätte das etwas geändert? Am Ende bleibt selbst Richterin Celine Eich trotz vieler geduldiger Nachfragen ratlos zurück.

»Ich kenne mich nicht mit Bauen aus, ich habe zwei linke Hände«

Neben den harten Fakten hat dieser Fall noch eine weitere Ebene. Eine, die am Ende jeden großen und kleinen Verein betrifft. Es ist die grundlegende Frage danach, für was ein Vorsitzender haftbar gemacht werden kann. »Allein weil jemand Vorsitzender eines Vereins ist, kann er nicht automatisch strafrechtlich belangt werden«, hatte der Reutlinger Rechtsanwalt Sören Kurz, der Verteidiger des Angeklagten, im Gespräch mit dem GEA im Juni 2024 gesagt. An diesem Donnerstag wird klar, dass der Angeklagte zumindest etwas blauäugig an die Sache herangegangen ist. Wie's halt oft bei Vereinen ist, fand sich damals kein Vorsitzender. »Ich wurde überredet«, sagt er. Er ist von Beruf Informatiker und habe damals klar kommuniziert: »Ich kenne mich nicht mit Bauen aus, ich habe zwei linke Hände.« Er habe seine Rolle im administrativen Bereich gesehen, Förderanträge gestellt, Gelder akquiriert, zu Versammlungen eingeladen und diese geleitet. Das bestätigen auch andere Vereinsmitglieder, die vor Gericht aussagen.

Im Laufe der Verhandlung wird deutlich, dass er sich mit dem Kleingedruckten und den Details von Bausicherheit und Vereinsrecht nicht bis ins Detail auseinandergesetzt hat. »Und ich hätte auch nie was zu den anderen gesagt am Tag des Abrisses«, sagt er. »Ich dachte, die wissen alle, was sie tun.« Der Mann, der am Ende vom Betonträger getroffen wurde, wird an diesem Donnerstag als handwerklich sehr geschickt und höchst kompetent beschrieben. Auch ein weiteres Mitglied des Fördervereins, das am Unglückstag vor Ort war, sagt vor Gericht über seine Kompetenz: »Ich hab' schon zwei Häuser umgebaut. Wir wussten, um was es geht. Nur damit hat niemand gerechnet ...«

»Ich dachte, die wissen alle, was sie tun«

Laut Arbeitsschutzgesetz hätte der angeklagte Ex-Vorsitzende des Fördervereins einen Sicherheitskoordinator für die Bauarbeiten bestimmen müssen, sagt die Sachverständige Christiana Küpper. Doch das ist nicht geschehen. Was Küpper aber auch verdeutlicht: Die »einzigen Fachkundigen« in der ganzen Geschichte, nämlich der Architekt und der Statiker, hätten die Fördervereinsmitglieder auf die Gefahren eines eigenmächtigen Abbruchs hinweisen müssen. »Mit einer gewissen Berufserfahrung« hätte der Architekt erkennen müssen, »dass es gefährlich ist«.

Nach knapp vierstündiger Verhandlung ist für alle Seiten klar: Es handelt sich um einen höchst tragischen Fall, bei dem die Schuldfrage nur schwer eindeutig zu klären ist. Deshalb schlägt Richterin Eich eine Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldauflage in Höhe von 2.000 Euro vor. Alle Beteiligten stimmen zu.

Absolute Stille herrscht schließlich im Gerichtssaal, als die Witwe des tödlich verunglückten Mannes auf Nachfrage von Richterin Eich vorschlägt, das Geld an den Ambulanten Hospizdienst Reutlingen zu spenden. Dieser betreue sie und ihre beiden Kinder seit dem Vorfall, »und meine Kinder profitieren so davon«. Sie ist an diesem Tag als Nebenklägerin aufgetreten, »weil dies die einzige Möglichkeit für Hinterbliebene ist, gegebenenfalls aktiv am Prozess teilzunehmen«, sagt ihr Anwalt. Sie fühle sich ihrem Mann, den Kindern und der ganzen Familie verpflichtet. Was sie als Nebenklägerin nicht angestrebt hatte, ist die Verurteilung des Angeklagten. Mit Tränen in den Augen sagt sie in seine Richtung: »Du, ihr alle, jeder wollte einfach nur was Gutes tun fürs Dorf.« (GEA)

Im Gerichtssaal: Richterin Celine Eich; Staatsanwalt Patrick Pomreinke; Verteidiger Sören Kurz; Nebenklage Benjamin Chiumento; Sachverständige Christiana Küpper.

So geht's mit der Kulturwache weiter

»Natürlich ist seit dem Unfall alles anders«, sagt Jörg Launer. Er ist seit Juni 2024 der neue Vorsitzende des Fördervereins. »Unser Augenmerk liegt jetzt eher darauf, Gelder zu generieren über Spenden«, berichtet er. Größere Arbeiten, wie beispielsweise Mauerdurchbrüche, vergebe man nun an Firmen, »das machen wir nicht mehr selbst«. Eine Herausforderung für den Verein - denn alles wird nun deutlich teurer.

Eine erste Kalkulation des Architekten habe mal Gesamtkosten in Höhe von 350.000 Euro prognostiziert, »da wäre aber auch schon der Ausbau des Untergeschosses mit drin«. 2024 und 2025 hat der Verein jeweils 50.000 Euro von der Stadt Reutlingen bekommen. Somit ist die Kulturwache eins von ganz wenigen Projekten, das von der klammen Stadt aktuell noch Zuschüsse bekommt.

»Wenn es gut läuft, können wir mit den städtischen Zuschüssen die sanitären Anlagen einbauen«, sagt Launer. »Das wäre ein großer Schritt, dann brauchen wir für Feste keine Dixiklos mehr.« Launer ist ein höchst vorsichtiger Vorsitzender, der tödliche Unfall und die folgende Anklage haben ihn und die ganze Vereinsgemeinschaft in Sickenhausen geprägt. Die Berufsgenossenschaft habe nach dem Unfall gesagt, der Ex-Vorsitzende hätte eine Gefährdungsbeurteilung schreiben müssen.

Also setzt Launer das nun rigoros um. In solchen Beurteilungen stehen dann Dinge wie: Wer auf den Grill fasst, kann sich verbrennen. Wer auf dem nassen Boden läuft, kann ausrutschen ... Zeitlich halte sich der Aufwand dafür in Grenzen, »das ist ein vorgefertigtes Formular der BG«. Anfangs sei er belächelt worden, »aber nun haben das andere Vereine in Sickenhausen übernommen«. (kk)