REUTLINGEN/TÜBINGEN. Es war immer die gleiche Masche. Über die Messenger-Dienste Snap-Chat und WhatsApp machte sich der 37-Jährige aus Ostdeutschland an minderjährige Mädchen ran. Er überredete sie zum Austausch von Nacktbildern und Videos mit sexuellem Inhalt. Mit einigen der Kinder traf er sich auch und missbrauchte sie. Eines der mutmaßlichen Opfer kommt aus Reutlingen. Deshalb wird der Fall seit Montag vor dem Tübinger Landgericht verhandelt.
Über 400 Fälle hat die Tübinger Staatsanwaltschaft zusammengetragen. Sie reichen von Vergewaltigung, schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern bis hin zu Erstellung und Besitz von hunderten von kinder- und jugendpornografischen Fotos und Videos. Rund eine Stunde brauchten die beiden Vertreterinnen der Staatsanwaltschaft, Rotraud Hölscher und Edith Zug, um die Anklageschrift vorzulesen.
Detaillierte Horrorgeschichte
Zuvor hatte Verteidiger Sebastian Gauss bereits den Antrag gestellt, die Öffentlichkeit für die Verlesung der Anklageschrift auszuschließen. Doch die 3. Große Jugendkammer des Tübinger Landgerichts lehnte das Ansinnen der Verteidigung ab. So hörte die Öffentlichkeit eine nicht enden wollende Reihe von Horrorgeschichten. Detailliert aufgelistet, Fall für Fall vorgelesen von den beiden Staatsanwältinnen. Es ging dabei um 25 meist minderjährige Mädchen, die der Angeklagte missbraucht oder zu intimen Fotos und Videos überredet und gedrängt haben soll. Viele der mutmaßlichen Opfer stammen aus Ostdeutschland. Einige Tatorte liegen aber auch in Süddeutschland.
Ein Geschehen brachte die Ermittlungen offenbar ins Rollen, wie Hölscher gestern andeutete. Es war der Fall einer Zwölfjährigen aus Reutlingen. Auch sie hatte der Angeklagte über Snap-Chat und WhatsApp kennengelernt. Zuerst ging es nur um Nacktbilder, doch dann überredete er das Mädchen zu einem Treffen.
Kinderpornografische Fotos »fein säuberlich sortiert in Ordnern«
Der 37-Jährige nahm sich dafür sogar mehrere Tage frei. Er reiste nach Reutlingen, traf sich heimlich mit dem Kind und drängte es zu sexuellen Handlungen. Es kam auch mehrmals zu Geschlechtsverkehr in seinem Auto auf einem Feldweg in einem Reutlinger Vorort.
Als dieser Fall, wie auch ein weiterer Vorfall in Baden-Württemberg, publik wurden, griff die Polizei zu. Der 37-Jährige aus Sachsen wurde am 11. März 2024 verhaftet. Die Polizei durchsuchte seine Wohnung und fand auf seinem Computer unzählige kinder- und jugendpornografische Fotos und Videos, »fein säuberlich sortiert in Ordnern«, wie Oberstaatsanwältin Hölscher gestern berichtete.
Kind aus der Nachbarschaft missbraucht
Danach nahm die Missbrauchs-Geschichte immer größere Formen an. Die Ermittler stießen auf weitere minderjährige Opfer. Viele von ihnen leben in der näheren Umgebung des Angeklagten. Eines der Mädchen war sogar ein Nachbarskind. Laut Staatsanwaltschaft ist die Rede von fast 200 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern.
Wegen der Vielzahl der Fälle hat die 3. Große Jugendkammer des Tübinger Landgerichts insgesamt 30 Verhandlungstage angesetzt. Bisher hat der Angeklagte zu den Vorfällen noch nichts ausgesagt. Sein Verteidiger Sebastian Gauss ließ gestern durchblicken, dass sein Mandant Angaben machen wolle, allerdings soll dabei die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Über diesen Antrag des Verteidigers hat die Jugendkammer noch nicht entschieden.
Im Gerichtssaal
Gericht: Dirk Hornikel (Vorsitzender Richter), Kim Posselt, Stefan Pfaff. Schöffen: Melanie Böhm, Michael Maurer. Staatsanwaltschaft: Rotraud Hölscher, Edith Zug. Verteidigung: Sebastian Gauss, Önsel Ipek. Nebenklage: Sandra Ebert, Michael Krausche.
Allerdings kündigte der Vorsitzende Richter Dirk Hornikel an, dass sich alle Seiten, Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung, noch am Nachmittag zusammensetzen wollen, um eine Verständigung zu finden. So könnte der Prozess eventuell abgekürzt werden und den Opfern ein Auftritt vor Gericht erspart bleiben. Allerdings nur, wenn der Angeklagte ein Geständnis ablegt. Für ihn geht es in dem Prozess um viel, denn es steht auch eine Sicherungsverwahrung im Raum.
Im Vorfeld des Prozesses hatte es schon eine juristische Auseinandersetzung zwischen der Jugendkammer und der Staatsanwaltschaft gegeben. Die Jugendkammer hatte einige Anklagepunkte der Staatsanwaltschaft mit der Begründung abgelehnt, diese Vorwürfe seien nicht ausreichend ermittelt. Die Staatsanwaltschaft legte Beschwerde gegen dieses Vorgehen der Jugendkammer beim Oberlandesgericht in Stuttgart ein und bekam Recht. Die angezweifelten Tatvorwürfe blieben in der Anklageschrift. Der Prozess wird am 10. März fortgesetzt. (GEA)