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Aktuell Prozess

Vor Gericht: Reutlinger Vater soll sechsjährigen Sohn schwer vernachlässigt haben

Drogensüchtiger mit vielen Vorstrafen bestreitet vor dem Reutlinger Amtsgericht, ein schlechter Papa zu sein. Staatsanwaltschaft mit schweren Vorwürfen: Beim Kind sei die altersgemäße körperliche und psychische Entwicklung erheblich verzögert.

Das Reutlinger Amtsgericht. Hier musste sich der frühere Torwarttrainer der Metzinger »TusSies« verantworten, der in der Umkleid
Das Reutlinger Amtsgericht. Foto: Frank Pieth
Das Reutlinger Amtsgericht.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. Ein tragischer Fall, der vor Gericht verhandelt wird: Der Prozess gegen einen Reutlinger Vater, der seinen eigenen Sohn über Jahre vernachlässigt haben soll. Denn was die Beweisaufnahme zum Leiden des sechsjährigen Jungen an das Licht der Öffentlichkeit fördert, ist traurig. Wenn dazu auch noch klar wird, wie sehr das Leben des Angeklagten von Drogensucht und Kriminalität geprägt ist, bleibt nur Betroffenheit.

Schon der Auftakt passt zum Fall. Als Richter Eberhard Hausch, Vorsitzender des Schöffengerichtes am Amtsgericht Reutlingen, mit der Verhandlung beginnen möchte, ist der Angeklagte abwesend. Seine Verteidigerin Safak Ott blickt auf ihr Smartphone, spricht von einer Nachricht ihres Mandanten, nach der er sich verspäten werde. Eine halbe Stunde nach dem Starttermin ist der Mann immer noch nicht aufgetaucht. Staatsanwalt Dr. Burkhard Werner beantragt einen Haftbefehl. Richter Hausch macht etwas, was sehr selten ist: sich zu Fuß mit den beiden Schöffen Frank Degner und Benjamin Maier auf den Weg zur Wohnung des Angeklagten.

Im Gerichtssaal

Richter: Eberhard Hausch. Schöffen: Frank Degner und Benjamin Maier. Staatsanwalt: Dr. Burkhard Werner. Verteidigerin: Safak Ott.

Zehn Minuten spazieren der Amtsrichter und die Schöffen gemeinsam mit Rechtsanwältin Ott, bis sie das Zuhause des Angeklagten erreichen. Zwei Polizisten warten schon, um notfalls bei der Vorführung des Mannes zu helfen. Doch dazu kommt es nicht, weil er abwesend ist. Nach schneller Wohnungsbesichtigung, über deren Ergebnis am kommenden Verhandlungstag berichtet wird, laufen alle wieder zurück ins Amtsgericht. Dort ist der Angeklagte mittlerweile aufgetaucht, sitzt äußerlich gelassen, mit brauner Tarnfarbenjacke und über den Mund gezogenem Halstuch im Sitzungssaal. Womit der Prozess mit anderthalbstündiger Verspätung startet.

Mit ernstem Gesicht verliest Staatsanwalt Dr. Burkhard Werner eine Anklageschrift, die voller schwerer Vorwürfe steckt. Demnach war der Vater nicht in der Lage, »auch nur seinen minimalsten Fürsorgepflichten nachzukommen«. Papa habe es an »ordnungsgemäßer Hygiene und Ernährung« fehlen lassen. Als Konsequenz sei bei dem Kind die altersgemäße körperliche und psychische Entwicklung erheblich verzögert. Konkret ist von Bewegungs- und Sprachstörungen die Rede. Werner beklagt, in Gegenwart des Kindes hätten sich die psychisch angeschlagene Mutter und der drogensüchtige Vater heftige verbale und auch tätliche Auseinandersetzungen geliefert. Hilfsangebote des Jugendamtes wurden laut Anklage abgelehnt, Kindergartenbesuche versäumt. Dies alles sei in einer zugemüllten und verdreckten Wohnung passiert und erfülle den Straftatbestand der groben Verletzung seiner »Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter 16 Jahren«.

»Ich bin ein guter Papa«

Der Angeklagte nimmt dazu ausführlich Stellung. "Ich habe meinen Sohn nicht vernachlässigt", betont er, schnell sprechend und teils mit verwaschener Aussprache, »Ich bin ein guter Papa«. Alkohol habe er schon lange keinen mehr getrunken: "Ich bin trocken." Sein Sohn habe schlichtweg "nicht in den Kindergarten gewollt". Außerdem sei das Kind "ein Autist". Für diese Behauptung spricht keinerlei offizielle Diagnose. Stattdessen erbringt die Beweisaufnahme viele Belege für bedenkliche Entwicklungsstörungen des Kindes. Richter Hausch verliest aus vorangegangenen Prozessen vor dem Familiengericht stapelweise Aussagen.

Das Kindeswohl beschäftigte viele Stellen seit mehreren Jahren. Wieso der Sohn so lange im Elternhaus bleiben konnte, ist eine der sich aufdrängenden Fragen. Im September des vergangenen Jahres kam ein Gutachten schließlich zur Erkenntnis, es lägen »tiefgreifende seelische Vernachlässigung« vor und die Inobhutnahme des Sohnes sei zu empfehlen. Auch eine Kinderärztin sprach von »konkreter Gefahr für die Weiterentwicklung« des Minderjährigen. Das Kind wurde schließlich im August 2024 durch das Jugendamt untergebracht.

Was den ersten Verhandlungstag beschließt, ist die Aufzählung der Vorstrafen des Angeklagten. Die gerät zur 30-minütigen Vorlesestunde für Richter Hausch. Sie enthält Beleidigung, Bedrohung, Rauschgiftkonsum, Diebstähle, Fahren unter Drogeneinfluss sowie Anbau von Cannabis. In der Folge Geldstrafen, Freiheitsstrafen auf Bewährung sowie Auflagen. Die Fortsetzung des Verfahrens ist auf Mittwoch, 12. März, um 8.30 Uhr festgesetzt. (GEA)