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Vor 80 Jahren: Vier Reutlinger Bürger hingerichtet

Am 24. April 1945, wurden am Schönen Weg unterhalb der Achalm vier deutsche Männer von den französischen Besatzern hingerichtet – ohne vorheriges Verhör oder eine Verhandlung. Bis heute sind viele Fragen offen.

Vier Grabkreuze erinnern am Schönen Weg der am 24. April 1945 erschossenen Geiseln.
Vier Grabkreuze erinnern am Schönen Weg der am 24. April 1945 erschossenen Geiseln. Foto: Stadtarchiv
Vier Grabkreuze erinnern am Schönen Weg der am 24. April 1945 erschossenen Geiseln.
Foto: Stadtarchiv

REUTLINGEN. Am 20. April 1945 marschierten die französischen Besatzungsmächte in Reutlingen ein. Der Vorstoß der Franzosen in die Innenstadt verlief nicht ohne Widerstand. Dass es zu keinen größeren Kampfhandlungen gekommen ist, lag unter anderem am beherzten Einschreiten Oskar Kalbfells, der den Franzosen die kampflose Übergabe der Stadt versprach. Noch am selben Abend wurde er von ihnen zum kommissarischen Oberbürgermeister ernannt.

Doch immer wieder kam es zu Scharmützeln und Übergriffen. Vier Tage nach der Besetzung der Stadt wurden vier Reutlinger Bürger von den französischen Besatzern hingerichtet. Ein Ereignis, das über viele Jahre weit über die Region hinaus hohe Wellen geschlagen hat – vor allem, weil sich Gerüchte um eine Beteiligung Kalbfells hartnäckig hielten. Auch Dietmar Näher, Enkel des getöteten Jakob Schmid, verweist auf die unklare Rolle, die Kalbfell bei der Auswahl der Geiseln gespielt haben soll. »Es waren alles Leute, die Kalbfell nicht leiden konnte«, weiß Näher aus Erzählungen seiner Mutter und Großmutter.

Er hat zum GEA Kontakt aufgenommen und eine Mappe mit Unterlagen gebracht: darunter Zeitungsartikel aus bundesweiten Medien, sowie eine Kopie des Abschiedsbriefes und eine Vorladung seines Onkels zum Prozess in Nürnberg 1951, in dem gegen Oskar Kalbfell ermittelt wurde. Er selbst habe kaum Erinnerungen an seinen Großvater, erzählt Dietmar Näher. Er war gerade mal sechs Jahre, als dieser hingerichtet wurde. »Wir waren ab und zu bei meinen Großeltern zu Besuch«, erzählt er, diese haben damals am Weibermarkt gewohnt, sein Opa war als Schreiner auch für Beerdigungen zuständig und deshalb öfter im Rathaus zugegen. Was hat sich aber nun an jenem Tag vor 80 Jahren ereignet? Und welche Folgen hatte es?

Was war der Grund für die Erschießung?

In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 stürzte ein französischer Unteroffizier an der Lindach-Garage von seinem Motorrad und starb. Die französische Militärführung unterstellte einen Mordanschlag und sie statuierten ein Exempel. Vier Männer wurden verhaftet und am 24. April auf Befehl des französischen Kommandanten Max Rouché auf ein Grundstück unterhalb des Schönen Wegs geführt und dort von einem Exekutionskommando hingerichtet – ohne Verhör, ohne Verhandlung, ohne Verteidigung. Der katholische Stadtpfarrer Hermann Keicher überbrachte anschließend den vier Familien die Todesnachricht und gab ihnen die Abschiedsbriefe.

Wer waren die Opfer?

Bereits am 23. April war Dr. Wilhelm Egloff, 60 Jahre alt, SS-Untersturmführer und Chef der Reutlinger Reservelazarette, verhaftet worden. Der Schreinermeister Jakob Schmid, 64 Jahre alt, Mitglied der Reutlinger SA, wurde am Vormittag des 24. April im Rathaus festgenommen, als er dort wegen eines Autos für den Transport für Särge nachfragte. Bautechniker Wilhelm Schmid, 38 Jahre alt, während des Krieges Scharführer in der Waffen-SS, wurde von zwei französischen Soldaten am 24. April in seiner Wohnung verhaftet und ins Rathaus abgeführt. Ludwig Ostertag, 54 Jahre alt, Redakteur bei der von der NS-Presse kontrollierten Reutlinger Zeitung, wurde ebenfalls in seiner Wohnung verhaftet und ins Rathaus gebracht.

Die Auswahl der Geiseln

Bereits kurz nach der Erschießung der Geiseln kursierte in der Stadt das Gerücht, Oskar Kalbfell habe sie ausgesucht. Die Franzosen hätten zunächst vorgehabt, 20 Hitlerjungen zu töten. Kalbfell habe sie dann auf vier Geiseln heruntergehandelt – und deren Auswahl höchstpersönlich übernommen. Die Wahl sei auf diese vier gefallen, da Kalbfell mit allen irgendwann in Streit geraten war oder Differenzen mit ihnen gehabt hatte. So soll Jakob Schmid Oskar Kalbfell im Jahr 1933 auf den Heuberg gebracht haben, wo er wegen seiner NS-feindlichen Haltung inhaftiert wurde.

Mit Wilhelm Schmid soll Kalbfell einmal Streit im städtischen Hochbauamt gehabt haben. Dr. Egloff habe Kalbfell als Sanitätsunteroffizier einmal mit Arrest bestraft. Mit dem Redakteur Ostertag habe Kalbfell eine Auseinandersetzung wegen eines Artikels gehabt. Ob die Geschichten stimmen, lässt sich nicht mit Sicherheit be- oder widerlegen. Nur im Falle Egloffs wurde nachgewiesen, dass es nicht stimmt – was Zweifel an der Theorie aufkommen ließ. Klar ist: Alle vier waren überzeugte Nationalsozialisten – allerdings hätten auch sie das Recht auf einen Prozess gehabt.

Die Gerichtsverhandlung gegen Kalbfell

Am 6. September 1951 begann vor dem Landgericht Tübingen das Disziplinar-Strafverfahren gegen Oberbürgermeister Oskar Kalbfell, das dieser selbst beantragt hatte. In mehreren Verhandlungstagen erfolgte eine umfangreiche Beweisaufnahme, zahlreiche Zeugen wurden gehört. Am Ende stand ein Freispruch, der Vorwurf habe sich nach dem ganzen Prozessverlauf »als eine Mär erwiesen«, schrieb der GEA am 21. September 1951 nach der Urteilsverkündung. Allerdings ist bis heute ungeklärt, wer für die Auswahl der Geiseln verantwortlich war.

Das Schweigen des Pfarrers

Auch über die Gründe, warum Pfarrer Keicher die Aussage verweigert hat, besteht bis heute Ungewissheit. Aufklärung hatten sich in der Verhandlung nämlich viele von ihm erhofft, der den Geiseln die letzte Beichte abgenommen hat. Doch trotz der Bitten der Hinterbliebenen und mehrfacher Aufforderung durch das Gericht blieb er bei seinem Entschluss und schwieg über das, was die Hingerichteten ihm als letzte Worte mitgaben und auf wen sich folgenden Passage im Abschiedsbrief von Jakob Schmid bezogen hat: »K. soll es so bestimmt haben.« Der Pfarrer wies jedoch immer darauf hin, dass sein Schweigen nicht als »Ja« oder »Nein« zu deuten sei.

Keine Entschuldigung

Besonders enttäuscht sei seine Familie über das Verhalten der Stadt gewesen, kann sich Dietmar Näher erinnern, vergeblich haben sie auf eine Entschuldigung gewartet. Irgendwann gab es eine Entschädigungszahlung, aber kein Wort der Anteilnahme. (GEA)