REUTLINGEN. Seit 73 Jahren lebt Ilse Schmicker schon in Reutlingen. Doch beim Gespräch blitzt die Hamburger Deern unverändert durch. Nicht nur das tadellose Hochdeutsch verrät die nordischen Wurzeln. Auch der staubtrockene Humor. Die Jubilarin erzählt in druckreifen Sätzen, oft mit einer Pointe am Schluss, und ihr Gedächtnis scheint beneidenswert klar. Zumindest, wenn es um die schon etwas weiter zurückliegende Vergangenheit geht. »Was es gestern zu essen gab, dürfen Sie mich nicht fragen. Es sei denn, es wäre ganz schlecht gewesen«, sagt sie und lächelt spitzbübisch in Richtung von Heimleiterin Caroline Wucherer. Die lacht gerne mit. »Frau Schmicker ist eine große Bereicherung«, findet sie.
Ins Seniorenzentrum am Markwasen ist die 100-Jährige vor etwas mehr als einem Jahr umgezogen. Auch wenn Sehkraft und Gehör mit der Zeit nachgelassen hatten, kam sie lange noch selbstständig in den eigenen vier Wänden in der Carl-Diem-Straße im Storlach zurecht, erzählt der 71-jährige Sohn Rolf Schmicker, der ihr den bislang einzigen Enkel beschert hat. Doch im Januar 2024 stürzte sie. »Da hab ich mir das Sprunggelenk an drei Stellen gebrochen.« Das bedeutete: »Acht Wochen Gips. Orthese. Und danach musste ich erst wieder laufen lernen.« Nachdem sie zudem an Schwindelgefühlen litt, fühlt sie sich nach 62 Jahren im eigenen Zuhause heute im Haus der Bruderhaus-Diakonie sicherer - und spürbar wohl. Zumal sie Sohn Rolf und Tochter Karin dort häufig besuchen. Beide wohnen wie sie in der Stadt, nur der älteste Sohn lebt in Frankreich - und ihre Schwester in Hamburg.
»Die Frage ,Bist Du Heinz oder Wolfgang?' wurde zum geflügelten Wort«
Geboren wurde sie als Ilse Helene Riecke am 24. April 1925 in Hamburg-Altona. Ihren späteren Mann habe sie schon als Kind kennengelernt, erzählt sie. Dessen Familie lebte im Nachbarhaus ihrer Verwandten in Seggerde, einem Dorf an der Grenze zu Niedersachsen in Sachsen-Anhalt. Als junge Frau arbeitete die spätere kaufmännische Angestellte auf dem Fischmarkt - und schwärmte bald für Wolfgang Schmicker. Da ihm dessen Zwillingsbruder Heinz täuschend ähnlich sah, wurde die Frage »Bist Du Heinz oder Wolfgang?« zum geflügelten Wort. Doch bald konnte sie die beiden unterscheiden, beteuert sie - wieder mit hintergründig strahlender Miene. Zumal Wolfgang beim Russlandfeldzug der Wehrmacht beide Füße erfroren waren und amputiert werden mussten.
Das elterliche Haus in Hamburg wurde beim sogenannten »Feuersturm« der Alliierten im Zweiten Weltkrieg zerbombt. Zum Glück waren die 20-Jährige und ihre jüngere Schwester da erneut in Seggerde, denn das Haus wurde voll getroffen. »Da wäre auch von mir nichts übrig geblieben.« Erst Tage später kam ein Telegramm von den Eltern: »Alles verloren, aber wir leben.« Dabei habe der damalige Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, doch immer gesagt: »Wenn sich auch nur ein feindliches Flugzeug über dem Reichsgebiet befindet, dann will ich Herman Maier heißen!« »Der alte Aufschneider«, sagt sie kopfschüttelnd. »Nie wieder hungern und frieren«, habe sie sich damals zur Devise gemacht. Wichtiger aber sei: »Nie wieder Krieg!«
»Ob ich 102 werde, weiß ich noch nicht. Aber sicher ist: Das kann noch dauern«
Am 27. Juli 1946 hat sie Werner Wolfgang Schmicker dann in Hamburg-Flottbek geheiratet. Das Paar zog nach Mitteldeutschland, Halle an der Saale, 1947 kam der älteste Sohn Reinhard zur Welt. Ihr Mann musste jedoch 1951 aus der damaligen DDR fliehen. »Er hat den Mund zu weit aufgemacht«, berichtet Sohn Rolf. Da Zwilling Heinz in Reutlingen verheiratet war, erhielt er die Zuzugerlaubnis in die damalige »französische Zone«. 1952 folgte ihm Ilse nach, im Mai habe sie es mit Reinhard nachts auf Eisenschienen über die Aller geschafft, erzählt sie.
Auch wenn sie vor dem hohen Besuch zum 100. schon eine Woche lang nervös war: Als von Blumen und anderen Präsenten umrahmte Hauptperson genießt sie es am 24. April, im Gemeinschaftsraum »ihres Heims« in der Ringelbachstraße 225 mit dem Ersten Bürgermeister Robert Hahn »mal über die alten Zeiten zu reden«. Der hat Glückwünsche des Landesvaters Winfried Kretschmann, einen Blumenstrauß, Saft und Tee mitgebracht. Dazu eine Flasche Reutlinger Wein. Dabei ist das Rezept der Jubilarin für ein langes Leben doch, dass sie »nie geraucht und auch nicht getrunken« hat. Stattdessen habe sie »gearbeitet, so gut es ging, denn ein Gehalt hätte nicht ausgereicht«, gerne gelesen und ist oft schwimmen gegangen. Im Freibad habe sie auch mal eine »Wasserbombe« vom Dreimeterbrett gemacht. Noch eine Leidenschaft fällt der 1966 geborenen Tochter ein, die ihrer zierlichen Mutter den Beinamen »Frau Milka« eintrug. »Jeden Tag eine Tafel Schokolade hab ich gegessen«, sagt sie und grinste. Und weil »Humor ist, wenn man trotzdem lacht«, erklärt sie dem Vertreter der Stadt: »Ob ich 102 werde, weiß ich noch nicht. Aber sicher ist: Das kann noch etwas dauern.« (GEA)