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Aktuell Gericht

Vernachlässigte Kinder: Hätte das Reutlinger Jugendamt einschreiten müssen?

Als eine Frau im Sommer 2022 wegen Diebstahls verhaftet wird, werden katastrophale Zustände sichtbar - ihre zwei Kindern wurden massiv vernachlässigt. Aktuell stehen zwei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes Reutlingen vor dem Amtsgericht. Hätten sie früher aktiv werden müssen?

Zwei Mitarbeiterinnen des Kreisjugendamtes müssen sich wegen Unterlassung vor Gericht verantworten.
Zwei Mitarbeiterinnen des Kreisjugendamtes Reutlingen müssen sich wegen Unterlassung vor Gericht verantworten. Foto: Stephan Zenke
Zwei Mitarbeiterinnen des Kreisjugendamtes Reutlingen müssen sich wegen Unterlassung vor Gericht verantworten.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Die beiden Kinder, heute sieben und zehn Jahre alt, lebten in katastrophalen Zuständen. »Sie waren Gewalt und Hunger ausgesetzt, waren massiv vernachlässigt«, liest Staatsanwältin Franziska Hipp aus der Anklage vor. Und weiter: Oft überließ die Mutter die Kinder sich selbst, das Mädchen musste sich um ihren kleineren Bruder kümmern. Erst als die Mutter im Sommer 2022 wegen Diebstahls verhaftet wird, tritt zu Tage, wie schlimm es um die Kinder steht. Der Junge hat massive Zahnprobleme, zudem steckt seit vielen Monaten eine Perle in seinem Ohr, die psychische Entwicklung der beiden ist beeinträchtigt. Aktuell sind sie in einer Wohngruppe untergebracht, ihr Zustand habe sich zum Positiven gewandelt, sagt ihr Betreuer aus.

Warum wurden die Hilfen beendet?

Vor dem Reutlinger Amtsgericht steht allerdings seit Donnerstag nicht die Mutter als Angeklagte - sondern zwei Mitarbeiterinnen der Kreisjugendamtes, wegen Unterlassung. »Die Frau ist unsäglich als Mutter, das ist keine Frage«, betonte Richter Sierk Hamann. Allerdings gehe es in diesem Fall um die Frage, ob das Jugendamt nicht mehr hätte tun können. Beziehungsweise, warum die Hilfen, die es seit dem Jahr 2018 gab, im Herbst 2021 beendet wurden.

Die Mutter, auch das wurde in der Verhandlung deutlich, ist nämlich kein unbeschriebenes Blatt in Sachen Kindeswohlgefährdung. Bereits 2014 hat ihr das Oberlandesgericht das Sorgerecht für ihre vier älteren Kindern entzogen, die Erziehungsunfähigkeit wurde in diesem Verfahren nachgewiesen. Allerdings war sie festen Willens, die beiden jüngsten Kinder bei sich zu behalten und sie großzuziehen.

Chaotische Zustände

2018 beantragte sie auf Anraten einer Sozialpädagogin, die sie im privaten Umfeld kennenlernte, Unterstützung beim Kreisjugendamt - von dem wurde dann eie Hilfeträger beaufragt. Diese Sozialpädagogin war auch eine der fünf Zeugen, die am ersten Verhandlungstag aussagten, um Licht in einen »äußerst komplexen Sachverhalt«, so nannte es Richter Hamann, zu bringen. Sie arbeitet auch bei dem privaten Hilfeträger, der sich dann bis 2021 um die Mutter und ihre beiden Kinder kümmerte. Etwa acht Stunden pro Woche war ein Familienhelfer in der Familie, um sie zu unterstützen. Die Zustände dort seien chaotisch gewesen, schilderte der Pädagoge als Zeuge vor Gericht. Die Frau sei schwierig gewesen und »es war klar, dass vieles grenzwertig ist«. Allerdings betonte er, dass er in dem Zeitraum, in dem er regelmäßig dort war, keine Kindeswohlgefährdung gesehen habe.

Hilfe anzunehmen, fiel der Frau offensichtlich schwer, immer wieder hatte sie Mitarbeiter der Firma rausgeworfen, berichtete die Vorgesetzte des Familienhelfers. Sie warf ihnen Übergriffigkeit vor, wollte nicht, dass ihre Akten eingesehen werden können. Nur den heute 77-Jährigen akzeptierte sie über einen längeren Zeitraum. Auch die Mitarbeiterinnen des Jugendamtes ließ sie bei unangekündigten Besuchen nicht in die Wohnung. Die eine Angeklagte, die erste Sachbearbeiterin, war lediglich ganz zu Beginn des Betreuungsverhältnisses im Jahr 2018 vor Ort, die andere, die den Fall 2020 übernahm, gar nicht. Die Treffen fanden im Jugendamt statt, gemeinsam mit dem Hilfeanbieter.

Helfer warnt in seinem Bericht

2021 beschließt die Mutter plötzlich, keine weiteren Hilfen zu beantragen, der private Träger und das Jugendamt verlängern sie daraufhin nicht. Es wurde versucht, eine einvernehmliche Lösung zu finden, berichtete der Familienhelfer vor Gericht. Dennoch warnte er in einem Abschlussbericht recht deutlich davor, dass es schlimme Folgen haben könnte, wenn niemand mehr ein Auge auf die Familie hat. »Es ist absehbar, dass das System zusammenbricht«, hat er damals geschrieben, weitere Hilfen seien notwendig. Rein äußerlich waren die Kinder zu diesem Zeitpunkt nicht verwahrlost, hob er hervor. Auch konnte er keine akute Gefährdung oder Misshandlungen feststellen, er habe allerdings den Kindern nicht in den Mund geschaut.

Dennoch ahnte er, dass keine Lösung in Sicht war, wie die chaotischen Verhältnisse besser werden könnten. »Vielleicht hätte man mehr tun können«, räumt er ein. Allerdings sei auch er oft an seine Grenzen gestoßen. »Ich konnte nicht weiterhelfen, wenn ich nicht an sie rankam.«

Ein persönlichkeitsgestörter Mensch

Die Mutter sei ein sehr persönlichkeitsgestörter Mensch, da waren sich beide Sozialpädagogen des Hilfeträgers einig. Im Jahr 2021 war sie immer öfter nicht da, wenn der Helfer kam, oder sie öffnete nicht die Tür. »Es brachte nichts«, betonte die Vorgesetzte des Familienhelfers. Daher beschloss man, die Unterstützung ruhen zu lassen. Entweder, bis die Mutter sich selbst melde oder bis es einen gewichtigen Grund gäbe, um wieder aktiv zu werden. Zu diesem Zeitpunkt habe es keine Veranlassung gegeben, die Kinder rauszunehmen, sagte die 64-Jährige. Sie sei in vielen Familien unterwegs und oft sei die Situation noch schlimmer. Zudem seien die Kinder im Kindergarten gewesen - man habe damit gerechnet, dass die Erzieherinnen Meldung machen, falls etwas nicht stimmt. Was jedoch auch nicht passiert ist.

Die beiden Mitarbeiterinnen des Jugendamtes seien stets erreichbar gewesen, die Kommunikation mit ihnen offen und vertrauensvoll, sagte die Sozialpädagogin. »Ich hatte immer das Gefühl, wir gehen in eine Richtung.« Dennoch stellte sich dem Gericht die Frage, warum sich das Jugendamt zu diesem Zeitpunkt herauszog? Obwohl man wusste, dass es »irgendwann einen Knall gibt«, wie die Zeugin sagte.

Verhandlung geht weiter

Beide Angeklagte ließen über ihre Anwälte zu Verhandlungsbeginn Erklärungen verlesen. Darin weisen sie unter anderem darauf hin, dass ein Teil des Zeitrahmens in die Corona-Pandemie mit den Kontaktbeschränkungen gefallen war. Zudem konnte keine Kindesgefährdung festgestellt werden und es gab keine Meldung über Schläge oder Vernachlässigungen.

In den weiteren Verhandlungstagen, der nächste ist am 28. Mai, wird es nun unter anderem darum gehen, warum die Hilfsmaßnahmen trotz »eines Wetterleuchtens«, wie es Hamann nannte, 2021 beendet wurden, aber auch, wer diese Entscheidungen gemeinsam im Jugendamt trifft. (GEA)

Im Gerichtssaal

Richter: Sierk Hamann; Schöffen: Susanne Häcker, Rolf Goller; Staatsanwältin: Franziska Hipp; Verteidiger: Benjamin Fischer, Stephan Lohrmann.