REUTLINGEN. Riesen-Wirbel um Reutlinger Frauenarzt: Dass sein Name mal deutschlandweit durch Chatverläufe und Social Media gehen würde, hätte der Gynäkologe wohl bis vor kurzem nicht für möglich gehalten. Vor allem, da er auf Internetpräsenz offensichtlich keinen allzu großen Wert legt. Seine Praxis hat keine Website, auf entsprechenden Portalen hatte der Arzt bislang kaum Bewertungen. Die Betonung liegt auf hatte.
Bis am Donnerstagabend eine regelrechte Flut an negativen Google-Bewertungen einsetzte. Mehr als 300 Stück waren es am Freitagvormittag. In manchen wurde er schlecht bewertet, andere Personen attestierten ihm, den Beruf verfehlt zu haben, wieder andere beschimpften ihn sogar. Seit Freitagnachmittag ist die Praxis nun nicht mehr auf Google zu finden - und somit sind auch die vielen negativen Bewertungen verschwunden.
Ursache für die Masse an Hass-Kommentaren ist ein Video, das 2,33 Minuten dauert. Es ist gefilmt aus der Perspektive einer Frau, die man nicht sieht, aber hört. Sie steht in der Frauenarztpraxis und bekommt von der Sprechstundenhilfe eine Überweisung für die Klinik überreicht. »Warum können Sie mich denn nicht behandeln«, fragt sie empört. Die Arzthelferin antwortet: »Das habe ich Ihnen doch gesagt, und das brauchen wir auch nicht weiter zu diskutieren.« Daraufhin stürmt die Frau in das Sprechzimmer des Arztes.
Patientin will zur jährlichen Vorsorgeuntersuchung
Aus der Diskussion, die nun beginnt, ist Folgendes zu entnehmen: Die Patientin will zur jährlichen Vorsorgeuntersuchung und betont zudem, dass es sich um einen gesundheitlichen Notfall handele. Außerdem scheint sie keine Maske zu tragen, obwohl in Arztpraxen FFP2-Maskenpflicht gilt. Und sie ist wohl nicht gegen Corona geimpft. Die Frau äußert Unverständnis darüber, dass der Arzt an ihr nicht die jährliche Vorsorge vornehmen will. Dieser verweist auf die Überweisung in die Klinik und sagt, dass die Vorsorgeuntersuchung ja kein Notfall sei. Und er sagt folgenden Satz, an dem sich später die Wut im Internet entzündet: »Ja, wenn Sie geimpft sind, können Sie zur Vorsorge kommen, gell.«
Wurde der Frau aufgrund ihres Impfstatus die Behandlung verweigert? Spurensuche am Tag nach der Veröffentlichung des Videos. Der Frauenarzt ist im Stress. Die letzte Patientin war da, nun schließt er die Praxis für diesen Tag. Danach habe er gleich einen Folgetermin, sagt er dem GEA. Nur so viel: »Hier läuft eine Verleumdungskampagne.« Er sagt, dass es bei dem Streit um die Maskenpflicht gegangen sei. Von 2G in seiner Praxis spricht er nicht. Dann tauchen zwei Polizisten auf, weitere Nachfragen sind nicht möglich. Auch telefonisch nicht.
Das Video zieht indessen weiter seine Kreise. Auf Facebook wird es mehrfach geteilt, auch in »Querdenker-Telegramgruppen« in ganz Deutschland. So wird Jens Roth aus Nordhessen auf den Fall aufmerksam. Er meldet den Fall noch nachts bei der Reutlinger Polizei: »Es war ja durchaus denkbar, dass da ein wütender Mob auftaucht vor der Praxis.« Roth sagt von sich, dass er nicht politisch aktiv sei. Die »Querdenker-Szene« im Netz beobachte er aber interessiert.
Warum er sich so für einen Fall einsetzt, der sich knapp 400 Kilometer von seiner Heimat entfernt ereignet hat? »Das ist für mich die so oft medial eingeforderte Zivilcourage.« In einer Anti-Querdenker-Telegram-Gruppe aus seiner Region sei am Freitag dazu aufgerufen worden, den betroffenen Frauenarzt auf Google in einer Art Gegenaktion wieder positiv zu bewerten, berichtet er.
Reutlinger Polizei prüft den Fall
Die Reutlinger Polizei prüft indes, »welcher Tatbestand hier vorliegt«, sagt Sprecherin Andrea Kopp. Schon die Aufnahme eines Videos mit Tonspur ohne Wissen des Gegenübers sei strafbar, sagt sie. Auch Verleumdung und üble Nachrede kommen als Tatbestände infrage. Ob die Patientin die Eskalation bewusst provoziert hat? Auch sie ist für eine Stellungnahme am Freitag nicht zu erreichen.
Kai Sonntag, der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung, bezieht klar Position zu den Vorwürfen. »Ein Arzt darf einem Ungeimpften keine Behandlung verweigern, das ist eindeutig.« 2G und 3G sei für Kassenarzt-Praxen tabu. Wenn Patienten bereits Symptome hätten, seien beispielsweise Sondereingänge oder -sprechstunden möglich. Nur aufgrund des Impfstatus dürfe man eine solche Sonderbehandlung aber nicht einführen.
Die Patientin schreibt auf Telegram, dass sie von der Maskenpflicht befreit ist. In so einem Fall müsse der Arzt prüfen, ob das Attest glaubwürdig ist, sagt Sonntag. Sei es das, müsse der Patient behandelt werden. Wer ungeimpft ist und nicht behandelt wird, könne sich an die KV wenden, erklärt er. Diese prüfe den Fall und könne den Arzt gegebenenfalls auch sanktionieren, sagt er. (GEA)