REUTLINGEN/REGION. Die aktuelle Situation in Nahost beschäftigt viele Menschen in Reutlingen und der Region. Matthias Hofmann (54) aus Kirchentellinsfurt hat als Historiker und Orientalist jüngst ein fünfteiliges Geschichtskolleg zum Nahost-Konflikt an der Reutlinger Volkshochschule gehalten. Der Ingenieur Klaus Amann (68) von der Gemeindeleitung des Christlichen Zentrums Reutlingen (CZR) und Kerstin Oßwald (59) von dessen Pfullinger Zweig organisieren seit dem Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 Mahnwachen auf dem Marktplatz, damit die israelischen Geiseln nicht in Vergessenheit geraten. Auch Kulthum Schnitzler (62), eine deutsch-irakische Schulsozialarbeiterin und Arbeitstherapeutin, engagiert sich.
Was sind die Vor- und Nachteile einer Zwei-Staaten-Lösung?
Ein Nachteil ergibt sich Matthias Hofmann zufolge schon beim Blick auf eine Landkarte des UN-Teilungsplans von 1947: »Beide Staaten haben kein zusammenhängendes Staatsgebiet, sondern sind stark zerstückelt, was eine Verwaltung fast unmöglich machen würde.« Vor allem, da man leider davon ausgehen müsse, dass sich beide auch in Zukunft nicht freundlich gesinnt wären. Zudem gehe es letztendlich nicht nur um Souveränität, sondern auch um eine jeweils eigene wirtschaftliche Überlebensfähigkeit. Die sei zwar in Israel gewährleistet, aber nicht in Palästina. Darüber hinaus habe der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am 23. Februar sein neues Konzept bezüglich Israel und Palästina vorgelegt: »Daraus geht hervor, dass es noch nicht einmal mehr die palästinensische Autonomie geben soll.« Allerdings wäre die Anerkennung eines Pro-forma-Staates Palästina ein geeignetes Druckmittel auf Netanjahu, »endlich einen anderen politischen Kurs gegenüber den Palästinensern einzuschlagen« und eine eigenständige Wirtschaft in Palästina zuzulassen. »Rein ideell gesehen wäre wahrscheinlich eine Ein-Staaten-Regelung mit zwei Autonomien – unter der Voraussetzung, dass beide sich friedlich gegenüberstehen – die beste Lösung«, sagt der Nahost-Experte. Die könne aber »zurzeit noch nicht mal angedacht werden«.
Dem Reutlinger Klaus Amann erscheint eine Zwei-Staaten-Lösung auf den ersten Blick sinnvoll, um »die verworrene Situation« aufzulösen. Für eine Staatsgründung nötige Bedingungen – klare Landesgrenzen, Akzeptanz der Nachbarstaaten und demokratische Grundordnung – seien für einen eigenständigen palästinensischen Staat aktuell aber nicht gegeben. Seitens der Fatah würden keine Grundlagen für einen friedlichen Staat gelegt, und die Charta der Hamas mit Aussagen wie »Die Palästinenser-Frage kann nur durch den Dschihad gelöst werden« in Artikel 13 lasse befürchten, »dass eine Zwei-Staaten-Lösung in einem Kalifat enden wird«.
Kerstin Oßwald aus Pfullingen, die seit ihrer Jugend schon oft in Israel war und enge Kontakte dorthin pflegt, kann sich im Moment keine Zwei-Staaten-Lösung vorstellen. Wenn selbst Verhandlungen mit der als Terrororganisation eingestuften Hamas bezüglich der Geiseln nach wie vor scheitern, wie wäre es dann, wenn Gaza ein eigener Staat wäre?, fragt sie: »Wer sollte dort regieren? Mit wem würden die europäischen Regierungschefs diplomatische Beziehungen pflegen wollen?« Israel sei ein demokratischer Staat, »der einzige im Nahen Osten«, dort lebten mehr als 20 Prozent Araber, muslimische und christliche, die auch im Parlament, der Knesset, vertreten sind. Doch wie würde Palästina aussehen? »In Gaza ist die Hamas an der Macht, im Westjordanland in der Palästinensischen Autonomiebehörde die Fatah mit Abbas als Präsident.« Der habe in seiner Doktorarbeit den Holocaust geleugnet.
Auch Kulthum Schnitzler sieht darin keine Vorteile: »Eine Zwei-Staaten-Lösung bedeutet für die palästinensischen Menschen, weiterhin in Armut und Unterdrückung durch den Islamismus zu leben. Keine Demokratie und Freiheit.« Der Einfluss des Iran und weiterer arabischen Staaten würde bestehen bleiben, die gegen den Westen, Amerika, Israel, Demokratie und Menschenrechte seien. »Besser wäre ein ein Staat ,Israelpalästina'«, meint sie, »wo beide Völker miteinander das Land regieren und für das Wohl, Bildung, Leben in Demokratie und Freiheit und Fortschritt sorgen.« Als die gebürtige Deutsche in ihrer Jugend in Arabien und im Irak lebte, habe sie mitbekommen, »wie die palästinensischen Menschen in den arabischen Ländern als Menschen zweiter und dritter Klasse behandelt werden.« Vor 1949 hätten ihre Vorfahren dort mit Juden als Nachbarn zusammen gelebt: kein Islamismus, keine Feindschaften und kein Leben in Armut.
Könnte eine Zwei-Staaten-Lösung den Konflikt beenden?
Hofmann meint: »In der augenblicklichen Situation sicherlich nicht.« Wichtig wäre jetzt, dass der amtierende israelische Ministerpräsident Netanjahu zurückträte und bei dann folgenden Neuwahlen keine religiösen Parteien mehr an der Regierungsbildung beteiligt wären. »Religion sollte in einem modernen Rechtsstaat keinen Einfluss auf Politik nehmen können, da Religionen – egal welche – noch niemals tolerant waren.« Auch Schnitzler plädiert für eine Trennung von Staat und Religion. Der Krieg könnte beendet werden, wenn die UN, Deutschland und Europa die Rechte Israels anerkennen - ohne Wenn und Aber. Das palästinensische Volk müsse von der Hamas befreit werden, damit die Menschen dort wieder aufatmen können. Viele Palästinenser dort wollten mit Israel und den Juden in Frieden zusammen leben. Amann kann sich eine Befriedung des Konflikts auf diesem Weg gar nicht vorstellen: »Der große Hass, speziell in der jungen Generation, der in Gaza gefördert wird, ist das Haupthindernis.« Oßwald verweist auf Golda Meir, die von 1969 bis 1974 israelische Ministerpräsidentin war und gesagt haben soll: »Frieden wird es geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen.« Es gebe Projekte und Organisationen, die die Verständigung zwischen Juden und Arabern fördern. »Nur wenn ich jemanden kennenlerne, kann ich meine Meinung ändern«, ist die Frau überzeugt, die im April iranische Luftangriffe auf Israel in einem Schutzraum in Jerusalem miterlebt hat.
Was kann und sollten Deutschland und die EU diesbezüglich tun?
Hofmann erklärt, »bei Deutschland ist das immer sehr problematisch, aufgrund der Vergangenheit, aber die übrigen europäischen Staaten, sollten hierbei eine klare Stellung beziehen«, die sich am Völkerrecht und nicht an Sympathien oder Antipathien orientiere. Die derzeitige deutsche Außenpolitik laufe Gefahr, unglaubwürdig zu werden, wenn sie überall in der Welt für die Einhaltung der Menschenrechte plädiere. Denn das deutsche Engagement bezüglich der Palästinenser – nicht bezüglich der Hamas – sei alles andere als menschenrechtsfreundlich. Besser wäre, »eine wirklich neutrale Position gegenüber beiden Seiten einzunehmen«, keine Waffen mehr an Israel zu liefern und sich stattdessen für eine bessere Versorgung der Menschen in Gaza einzusetzen. »Alle Fachleute, die sich in der Region auskennen, attestieren Israel, dass die Hamas nicht mit militärischen Mitteln zu besiegen ist. Wenn man Terroristen erfolgreich bekämpfen will, muss man die Gründe, warum es zum Terrorismus kommt, beseitigen«, betont er.
Amann wie Oßwald kritisieren, dass Deutschland finanziell das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNWRA) unterstützt –in Millionenhöhe, ohne zu prüfen, was mit dem Geld passiert. Dies sollte an Bedingungen geknüpft werden. Oßwald findet es erschreckend, dass Deutschland nicht klar Stellung beziehe. Etwa, wenn Südafrika Israel Genozid vorwirft und vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag anklagt. Seit 2024 stehe diesem Nawaf Salam vor, ein libanesischer Jurist und Diplomat. »Ob er so neutral ist?« Für Schnitzler haben die UN und Deutschland in dieser Hinsicht versagt: »Die Kinderrechtskonvention von 1989 wird hier im Krieg nicht beachtet, denn die gilt für alle Kinder und nicht nur für die palästinensischen.«
Helfen Mahnwachen, Gebete, Demos und Protest? Oder vielmehr Diplomatie?
»Mahnwachen helfen, um eine breite Öffentlichkeit neutral zu informieren«, sagt Hofmann. Dazu müsse man manchmal unbequem sein. »Aber eine generelle Absage an den Staat Israel gehört definitiv nicht dazu.« Amann erklärt: »Christen glauben, dass Gebete etwas bewirken. Mahnwachen und Demos klären auf und sind ein Zeichen.« Auch im Ausland und bei den jüdischen Mitbürgern werde auf »unser Verhalten in Bezug auf Israel geschaut«. Schnitzler findet die Demonstrationen destruktiv. Sie helfen den Palästinensern nicht, schürten vielmehr den Krieg. Gebete seien immer gut, änderten jedoch nichts. »Mahnwachen? Ok, um die Geiseln in diesem Krieg nicht zu vergessen. Diplomatisch kann nur gehandelt werden, wenn alle Staaten die gleichen Menschen für alle Völker einräumen.«
Was brauchen, erhoffen sich die Menschen in Israel?
»Frieden. Und eine faire Behandlung«, berichtet Oßwald. Israel fühle sich von der Welt verlassen – »und letzten Endes fehlt auch nicht viel, um diesen Eindruck zu bestätigen«. Schnitzler ist überzeugt: »Was helfen würde ist, dass die Geiseln umgehend freigelassen werden.«
Hat die Hamas ein Ziel insofern bereits erreicht, als die Stimmung zu Lasten Israels kippt?
Oßwald kann nicht nachvollziehen, dass der Ursprung des Konflikts, das Massaker vom 7. Oktober 2023 und die Geiselnahmen, inzwischen weltweit so wenig Beachtung finde. »Man stelle sich vor, junge Frauen werden seit fast acht Monaten gefangen gehalten. Auch eine Familie mit zwei Kleinkindern.« Israel werde täglich beschossen. »Darüber liest man wenig.« Laut Amann hat die Hamas mit Bildern in den Medien viel erreicht. Er hoffe, »dass sich langfristig die Argumente der Vernunft durchsetzen«. Schnitzler beklagt, dass die Hamas aktuell auf Demonstrationen indirekt als »Befreier Palästinas« gefeiert werde. »Bis dato habe ich keine einzige Demonstration erlebt, die sich gegen diese Terroristen gerichtet hätte.« Auch nicht von islamisch-arabischen Flüchtlingen, die vor IS-Terror nach Deutschland flüchteten.
Hofmann, der seit 2003 in der Erwachsenbildung zu Außen- und Sicherheitspolitik tätig ist und zuvor als Reserve-Offizier zweimal für sechs Monate in Afghanistan stationiert war, erklärt: »Die Hamas hat leider schon einen Teilsieg dadurch errungen, dass die israelischen Streitkräfte in Gaza einmarschiert sind.« Indem die israelische Armee gezwungen sei, dort den sogenannten Orts- und Häuserkampf zu führen, müsse sie mit immensen Verlusten rechnen. »Die Hamas weiß, dass sie den Kampf nicht gewinnen kann, aber sie kann viele israelische Soldaten töten und verwunden.« Andererseits: »Antisemitismus ist nicht gleichzusetzen mit Antiisraelismus.« Es gelte zu differenzieren zwischen Kritik am Staat – Aberkennung des Existenzrechts Israels – und der Kritik am Vorgehen Israels beziehungsweise Netanjahus im derzeitigen Krieg. »Und das muss erlaubt sein.«
Sinkt das Interesse an Berichten über Israel und Gaza?
Immer weniger Menschen interessierten sich für das Schicksal der gefangenen Geiseln und ihrer Familien, beobachtet Amann. Trotzdem müsse Unrecht benannt werden, es dürfe keine »Opfer-Täter-Umkehr« geben. Oßwald findet es erschreckend, wenn junge Menschen weltweit »Intifada rufen, Juden ausgrenzen und angreifen und keine Diskussion mehr möglich ist«. Hofmann glaubt, »die Menschen haben allgemein genug vom Krieg beziehungsweise der Berichterstattung darüber. Zum einen die schlimmen Ereignisse in der Ukraine und zum anderen die nicht minder schlimmen Ereignisse im Gaza. Die Gesellschaft will es nicht mehr hören.« (GEA)