REUTLINGEN. »Der Krieg in der Ukraine betrifft die ganze Welt«, sagt Serhii Parpulanskyi. Er ist Bürgermeister von Arzys, einer Stadt im Süden nahe Odessa. Jetzt besucht er die Region Reutlingen. Einige Ermstal-Gemeinden unterstützen die Stadt mit Hilfsgütern. Parpulanskyi dankt den »deutschen Freunden«. Doch was er eigentlich will, sind Waffen – und zwar besser gestern als heute.
Über die Stimmung in seiner Stadt sagt Parpulanskyi: »Das Leben geht weiter. Wir müssen durchhalten. Der Mensch gewöhnt sich an alles.« »Alles« heißt in diesem Fall: Jeder dritte Einwohner kämpft gegen Russland. Strom gibt es sechs Stunden pro Tag. Die Wirtschaft steht weitgehend still. Vom Kriegsalltag berichtet Parpulanskyi auf der Achalm. Dort ist er zu Gast bei den Familienunternehmern und Jungen Unternehmern aus dem Kreis Reutlingen. Parpulanskyi – groß, kräftig, Stoppelkopf, Anzug – wirkt abgeklärt. Als hätte er so viele Schrecken erlebt, dass ihn nichts mehr erschüttert.
Ukrainer und Russen leben friedlich zusammen
Vielleicht hat Parpulanskyis scheinbare Gelassenheit aber auch damit zu tun, dass seine Stadt weit weg ist von der umkämpften Ostfront. Arzys liegt im Süden der Ukraine, 90 Kilometer Luftlinie entfernt von der Schwarzmeer-Metropole Odessa, nahe der Grenze zu Rumänien und Moldau. »Wir sind eine multikulturelle Stadt«, sagt der Bürgermeister. »Hier leben alle zusammen: Ukrainer, Rumänen, Moldauer – und Russen.« Vor dem Krieg gab es knapp 15.000 Einwohner. Wie viele davon inzwischen gestorben oder geflohen sind, weiß Parpulanskyi nicht.
Nur eines weiß er: 27 Raketenangriffe haben die Stadt seit Beginn der russischen Offensive Anfang 2022 getroffen. Und dabei auch die Stromversorgung lahmgelegt: Das bedeutet Rationierung von Heizkraft, Internet und Energie. Messbar ist der Schaden für die Wirtschaft: Als Haupteinnahmequelle dient aktuell die Landwirtschaft. Das Werk für Betonfertigteile arbeitet mit fünf Prozent seiner Kapazität. Der Militärflughafen ist außer Betrieb. Dort soll in Zukunft ein Industriepark entstehen – irgendwann nach dem Krieg. Doch wann das sein wird? »Das weiß Gott allein«, antwortet Parpulanskyi.
Die Nato ist schwach
Auf Hilfe vom Westen scheint der Politiker nicht mehr zu vertrauen. »Die Nato ist schwach«, meint er. Er hätte sich bessere Waffen gewünscht: zahlreicher, schneller und reichweitenstärker. Doch das sei nicht passiert. »Darum glaubt Putin, dass er alles machen kann.« Der Kremlchef brauche Krieg, nur so könne sein totalitäres Regime überleben. Angefangen habe es mit der Ukraine, weitergehen würde es mit dem Baltikum. An Putins Angebot einer Waffenruhe auf Grundlage des aktuellen Frontverlaufs glaubt Parpulanskyi nicht. »Vor vier Jahren hat Putin versichert, er würde die Ukraine niemals angreifen«, erinnert er sich. »Und was hat er getan?« Hoffnung macht Parpulanskyi nur die Zersetzung der russischen Armee: »Die zwangsmobilisierten Soldaten sind schlecht ausgebildet und nicht motiviert«, erklärt er. »Sie werden als Kanonenfutter an der Front verheizt.« Sorgen bereiten ihm jedoch die Söldner: »Das sind kampferprobte, gut bezahlte Profis.«
Dass viele ukrainische Soldaten von der Front heimkehren wollen, dass viele wehrfähige Männer ins Ausland geflohen sind, dass Ukraines Präsident Selenskyj im Volk Rückhalt verloren und Kiews Bürgermeister Klitschko Zustimmung gewonnen hat: Dazu sagt Parpulanskyi kein Wort. »Im Krieg machen wir keine Politik«, winkt er ab. Als ob er es sich innenpolitisch mit niemandem verscherzen will. »Ohne die Unterstützung der Regierung kann ich als Bürgermeister meine Arbeit nicht machen.«
Hilfe aus dem Ermstal
Und ohne die Unterstützung aus dem Ermstal auch nicht. Im Verbund »Ermstal hilft« bringen die drei Gemeinden Metzingen, Dettingen und Bad Urach regelmäßig Medikamente, Generatoren und Baumaschinen nach Arzys. Jetzt haben sie sich zu einer Solidaritätspartnerschaft zusammengeschlossen, um für die ukrainische Stadt Fördergelder beim Staat beantragen zu können. So bringt der Krieg vielleicht doch auch etwas Gutes. »Er betrifft die ganze Welt«, hat Parpulanskyi gesagt. Deutschland und die Ukraine hat er einander jedenfalls näher gebracht. (GEA)