Logo
Aktuell Jahrestag

Ukraine-Krieg: Reutlinger Hilfsvereine und Flüchtlinge ziehen Bilanz

Berichten über Startchancen und -probleme (von links): Iryna Dudak, Inessa Demchenko mit Tochter Maria und Galina Lerner.
Berichten über Startchancen und -probleme (von links): Iryna Dudak, Inessa Demchenko mit Tochter Maria und Galina Lerner. Foto: Frank Pieth
Berichten über Startchancen und -probleme (von links): Iryna Dudak, Inessa Demchenko mit Tochter Maria und Galina Lerner.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. Es ist ein tieftrauriger Jahrestag, der heute begangen wird, und von dem viele hofften, dass er der Welt erspart bleiben möge: Vor exakt zwölf Monaten hat Russland seinen blutigen Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen. Zahllose Menschen sind seither ermordet, verwundet, traumatisiert, verschleppt und vergewaltigt worden. Millionen mussten ihre Heimat verlassen und haben sich in die Sicherheit anderer Demokratien geflüchtet. Allein in Baden-Württemberg sollen es rund 150 000 Asylsuchende aus der Ukraine sein, die seit dem 24. Februar vergangenen Jahres aufgenommen wurden. Menschen wie Inessa Demchenko und ihre Tochter Maria, die mit wenig mehr als der Kleidung am Leib nach Reutlingen kamen.

Seit März 2022 leben die beiden Kharkiverinnen in der Achalmstadt und finden sich, wie sie erklären, inzwischen ziemlich gut zurecht. »Es funktioniert«, sagt Inessa Demchenko – dank der Unterstützung des Vereins »Bildungszentrum in Migrantenhand«, der jetzt gemeinsam mit dem Paritätischen und dem Hilfsverein »Drei Musketiere« zur Pressekonferenz eingeladen hat, um auf die Situation geflüchteter Ukrainer und auf sich selbst aufmerksam zu machen. Und: Um in die Öffentlichkeit zu tragen, dass bislang von der Aktion »Deutschland hilft« bereitgestellte Fördermittel aufgebraucht und keine weiteren finanziellen Zuwendungen in Sicht sind.

»Das ist richtig so und sollte Schule machen«

Dabei hat das »Bildungszentrum in Migrantenhand« binnen der zurückliegenden Monate segensreiche (ehrenamtliche) Arbeit geleistet. Vor allem für Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene, die sich ohne den Verein doch sehr verloren gefühlt hätten: mangels Deutsch- und Ortskenntnissen, im Dickicht der Bürokratie und mit den Gepflogenheiten einer ihnen fremden Mentalität.

Dass Inessa Demchenko bei ihren ersten Schritten auf unbekanntem Terrain von Frauen wie der Vereinsvorsitzenden Galina Lerner an die Hand genommen und – Stichwort: Traumatabewältigung – obendrein psychologisch betreut wurde, macht sie dankbar. Ob Einkauf, Behördengang, Antragsformular oder Sprachkurs – die 39-Jährige war und ist nicht auf sich allein gestellt. Ebenso wenig wie die 14-jährige Maria, die mittlerweile das Isolde-Kurz-Gymnasium besucht und Freundschaften geschlossen hat.

Auf einem vom »Bildungszentrum in Migrantenhand« eingerichteten Telegram-Kanal tauschen sich Mutter und Tochter mit Landsleuten aus, die es ebenfalls an die Echaz verschlagen hat. Gegenseitig spenden sie sich hier Trost und geben sich Halt. Außerdem werden sie mit Informationen versorgt, die ihnen das Einleben in Reutlingen erleichtern. Wiewohl Mutter und Tochter zunächst nicht damit gerechnet hatten, dass sie sich überhaupt einleben müssen.

Sie glaubten an ein rasches Kriegsende. Was sie mit Abertausenden anderer Schicksalsgenossinnen eint, deren Männer und Väter die Ukraine verteidigen, und von denen niemand sagen kann, ob sie den Krieg überleben werden. Ein Krieg, der bislang keine Rückkehr zulässt und deshalb ein Umdenken erforderlich macht.

Kunstobjekt von Inessa Demchenko: Auf schöpferischem Wege setzt sich die Ukrainerin mit den Gräuel des russischen Angriffskriegs
Kunstobjekt von Inessa Demchenko: Auf schöpferischem Wege setzt sich die Ukrainerin mit den Gräuel des russischen Angriffskriegs in ihrer Heimatstadt Kharkiv auseinander. FOTOS: PIETH
Kunstobjekt von Inessa Demchenko: Auf schöpferischem Wege setzt sich die Ukrainerin mit den Gräuel des russischen Angriffskriegs in ihrer Heimatstadt Kharkiv auseinander. FOTOS: PIETH

Waren Inessa Demchenko und Maria im März 2022 noch davon ausgegangen, Reutlingen in Bälde wieder verlassen zu können, tragen sie sich inzwischen mit dem Gedanken an eine zumindest mittelfristige, wenn nicht sogar dauerhafte Zukunft in der Achalmstadt. An die Stelle von Fragen nach Sozialleistungen, Kontakten und Kursen sind längst andere Fragen getreten: Wie geht es weiter? Beruflich und schulisch? Was kommt nach dem Integrationskurs? Dürfen die noch in der Ukraine lebenden Männer zwecks Familienzusammenführung später ebenfalls nach Deutschland kommen? Und zwar ohne hohe politische oder bürokratische Hürden überwinden zu müssen?

Darauf bauen und vertrauen Kinder und Mütter wie Maria und Inessa Demchenko. Darauf hofft auch Nathalie Wollmann vom Paritätischen, die es sehr begrüßt, dass den in Deutschland angekommenen ukrainischen Flüchtlingen »Einreise und Aufenthalt in unserem Land stark erleichtert wurden« – ohne Asylanträge stellen zu müssen, dank humanitärer Aufenthaltstitel.

»Manchmal sind sie zu alt und zu krank«

Weder sind ukrainische Schutzsuchende dazu verpflichtet, in Erstaufnahmeeinrichtungen einzuziehen, noch müssen sie auf Arbeitsgenehmigungen warten. Sofort erhalten sie Zugang zu Integrationskursen, Sozialleistungen und uneingeschränkter medizinischer Versorgung. »Das ist richtig so und sollte Schule machen«, findet Wollmann.

Ginge es nach ihr und dem Paritätischen, dann müsste die für Ukrainer geltende Niederschwelligkeit auf alle Asylbewerber gleich welcher Herkunft übertragen werden. »Deshalb fordern wir eine politische Neuorientierung, die jedem Schutzsuchenden von Anfang an die gleichen Startchancen einräumt« und den Weg rein in feste Alltagsstrukturen und hin zu beruflicher und sozialer Normalität ebnet.

Davon, also von Struktur und Normalität, können Menschen, die nach wie vor in der Ukraine ausharren, nur träumen. Markus Brandstetter, Gründer und hauptamtlicher Geschäftsführer der »Drei Musketiere«, weiß das aus persönlichem Erleben. Hautnah hat er im Zuge mehrerer Hilfseinsätze mitbekommen, wie desaströs die Lage für Zivilisten ist, denen es so ungefähr an allem mangelt, was der Mensch zum Leben braucht.

Beim Pressegespräch zum Jahrestag des Kriegsausbruchs erzählt er, dass sein Verein ein großes Warenlager im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet unterhält, von dem aus Hilfstransporte gezielt dorthin rollen, wo die großen Rettungsorganisationen keine Präsenz zeigen. An Bord: Lebens- und Arzneimittel, medizinisches Equipment, Schlafsäcke und Stromgeneratoren.

In Kharkiv, der Heimatstadt von Inessa Demchenko und Maria, betreiben die Reutlinger »Musketiere« außerdem eine Suppenküche, um den, wie Brandstetter sie nennt, »Zurückgebliebenen« wenigstens warme Mahlzeiten zu ermöglichen. Warum diese Menschen in Städten und Dörfern ausharren, die andere längst verlassen haben? Aus vielerlei Gründen. Die einen, so Markus Brandstetter, sind schlichtweg zu arm, um sich eine Flucht leisten zu können. Manchmal sind sie auch zu alt und zu krank. Oder sie sind solchermaßen heimatverbunden, dass sie sich ein Leben in der Fremde nicht vorstellen können.

Anders Inessa Demchenko und ihre Tochter, die mit dem Mut der Verzweiflung nach Reutlingen kamen und im »Bildungszentrum in Migrantenhand« so etwas wie einen Ankerplatz gefunden haben. Hier hat die 39-Jährige übrigens ihr Talent zum Kunstschaffen entdeckt. Von Haus aus Schneiderin gelangte sie auf therapeutischem Weg zum schöpferisch-kreativen Tun. Entstanden sind mehrere schaukastenartige Objekte, die den Ukraine-Krieg thematisieren und Demchenko dabei helfen, Traumata aufzuarbeiten und zu überwinden.

Ausgestellt sind sie in einem Raum des »Bildungszentrums in Migrantenhand« (Ringelbachstraße 195/001). Einige der von ihr geschaffenen Exponate haben außerdem Einzug ins Stuttgarter Haus der Geschichte gehalten. (GEA)