REUTLINGEN. Die Beerdigungsfeier ist fröhlich. »The last Dance«, der mutmaßlich letzte Tanz in den Reutlinger Atrium-Räumlichkeiten (heute Area 14), ist eine große Familien- und Freundesfete. Hallo hier, Küsschen da. Man muss sich allerdings mögen, denn die verwinkelte Partylocation ist mit über tausend Besuchern knackevoll, Tuchfühlung unmöglich zu vermeiden. Tschüss Abstandsregeln: An diesem Abend wird bis tief in die Nacht hinein auch das pralle Leben nach der langen Corona-Askese gefeiert.
Ausverkauft: Bereits kurz nach 20 Uhr stehen Gäste Schlange am Einlass auf dem ehemaligen Bauhaus-Areal, um doch noch eine Karte zuergattern. Gut eineinhalb Stunden später strömt das Partyvolk nach der kurzen Begrüßung durch DJ Patty auf die drei Tanzflächen in Prisma, Coyote und Pflaumenbaum. Man hat die Qual der Wahl: Original Atrium-Discjockeys von damals legen Musik aus den 70ern, 80ern und 90er-Jahren auf.
»Mit heute stirbt die Discoszene in Reutlingen«
1985 wurde das Atrium geöffnet, Schwerpunkt war zunächst Erlebnis-Gastronomie. Martin Klasen ist ein Mann der ersten Stunde, der frühzeitig erkannte: Da muss eine Disco rein, was 1986 umgesetzt wurde. Klasen alias DJ EmKa gehört zu den vier Organisatoren (alles ehemalige Atrium-Mitarbeiter), die über Jahre hinweg zweimal im Jahr die insgesamt 44 Revival-Partys organisiert haben, die an die alte Atrium-Discoherrlichkeit anknüpften. »Mach’s gut alte Hütte. Mit heute stirbt die Discoszene in Reutlingen«, sagt Klasen am Samstagabend. Und: »Ich bin traurig.« Die Veränderungen auf dem Emil-Adolff-Areal (der GEA berichtete) werden über kurz oder lang auch den Längstrakt der noch bestehenden Bebauung erreichen. »Wir hoffen, dass der Abriss später kommt«, sagt der DJ, der die leise Hoffnung hegt, dass es nach dem »last Dance« vielleicht doch noch einen allerletzten geben wird.
Klasen legt am Samstag im ehemaligen Coyote ganz altmodisch analog auf. Was zunächst einmal vor allem schwer ist: 400 seiner 3 000 Platten hat er in die Disco geschleppt. Von zwei Plattentellern kreist die Musik und dreht das Tanzvolk auf dem Parkett vor ihm, das sich teils in Reih’ und Glied zum Discofox formiert.
Hinter ihm: DeeJay Ossi, Ralf Oswald. Der letzte noch aktive Discjockey der Ehemaligen. Der 62-Jährige legt weiterhin unter anderem in der Kaiserhalle auf und freut sich bei aller Wehmut mächtig auf den Abend, die erste Revival-Party nach drei Jahren Coronapause.
Gereift die Djs, gereift auch das Publikum. Die Party wurde im Vorfeld als »Treffen der Generationen« beworben. Timo, 47, ist »von klein auf« ins Atrium gegangen. Der Reutlinger hat auch später keine der Revival-Partys verpasst, »außer, wenn ich krank war«. Am Samstag genießt er mit seiner Lebensgefährtin Andrea die Fete und, viele Bekannte zu treffen: »Die ganze Reutlinger Party-Szene ist da.«
Die 49-jährige Beate steht schon kurz nach 21 Uhr mit glänzenden Augen an der Tanzfläche. »Ich war als Jugendliche Stammgast im Atrium.« Heute hat sie ihre 18-jährige Tochter mitgenommen, um festzustellen: »Fühlt sich irgendwie doch etwas schräg an.« Sie ist an diesem Abend nicht die Einzige, die den Nachwuchs mitgebracht hat. In den weitverzweigten Lokalitäten kann jedoch jeder seines Weges gehen und muss nicht mit Papa oder Mama tanzen. Das Generationenprojekt funktioniert nicht zuverlässig. Der 22-jährige Ruben steht etwas verloren im Eck. Gefühl auf Nachfrage: »Durchwachsen«, verrät er grinsend. Die Eltern sind auch da, der Onkel legt auf. »Das letzte Mal« Atrium sei halt so ein »Familiending«, meint er, aber eben doch »was für die andere Generation«. Kurz drauf kann er sich den wummernden Beats von 90er-Jahre-Gassenhauern wie Dr. Albans »Sing Hallelujah« oder Haddaways »Don't hurt me« jedoch nicht gänzlich entziehen.
Die Partynacht macht sichtlich Spaß und einmal mehr deutlich, wie sehr es – nicht nur für junge Leute – an Tanzmöglichkeiten in Reutlingen fehlt. Dabei erfreute die Achalmstadt Nachtschwärmer über Jahrzehnte hinweg mit einer durchaus bunten Diskothekenszene vom Black Mustang bis zur Färberei. Partyvolk ist vorhanden – und wartet sehnsüchtig auf Nachfolge. (GEA)




