REUTLINGEN. Des Kaisers neue Kleider wären ökologisch am sinnvollsten. Aber das ist ja nur ein Märchen. In Wirklichkeit möchte niemand ohne Klamotten nackt herumlaufen. Also produziert die Industrie massenhaft Mode, wobei jede Menge textile Reststoffe anfallen. Wie sich solche Verschnitte oder auch Fehlproduktionen reduzieren sowie hochwertig verwerten lassen, wird jetzt an der Reutlinger Texoversum Fakultät Textil erforscht. Wovon letztlich jeder modebewusste Konsument etwas haben dürfte.
Denn ein gutes Gewissen beim Blick in den Kleiderschrank beginnt lange vor dem Einkauf. Das weiß niemand besser als Kai Nebel, Leiter des Forschungsschwerpunktes Nachhaltigkeit und Recycling der Fakultät. Er stellt bedenkliche Fakten zur Modewirtschaft vor: »Man kann bei der Produktion damit rechnen, dass 20 bis 30 Prozent Material nicht in einem Produkt enden«, sagt er. »Ich schätze, dass 30 bis 50 Prozent der global produzierten Kleidung nicht verkauft werden«, legt er nach, »und von dem, was verkauft wurde, wird 30 bis 40 Prozent niemals angezogen oder höchstens einmal getragen«. Das sitzt als Schlag gegen das Umweltgewissen wie eine zu enge Hose.
Die Unternehmen wollen nichts wegwerfen
Um wenigstens einen Teil dieser umweltschädlichen Verschwendung zu reduzieren, werden in Reutlingen jetzt »innovative Ansätze regionaler Textilkreisläufe« erforscht, in denen es um die Eignung von Reststoffen als Ressource geht. Die Idee dazu hatten unter anderen die Hochschule Reutlingen, das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) in Berlin sowie die Hohenstein Innovations GmbH. Forschungsgegenstand ist die Industrie im Land, bei der es neben der zwangsweisen Erfüllung von neuen Umweltstandards in der Europäischen Union auch um ein ziemlich gewinnendes Forschungsziel geht: Geld. Die Unternehmen interessiert natürlich, so Nebel, »Kosten zu sparen - denn sie wollen nichts wegwerfen. Der Schwabe wirft nichts weg«.
Aus den Worten Überschüsse und Ausschuss bildet sich auch der Projektname »Ueber-Aus«, in dem es ausdrücklich um die Stärkung regionaler Kreisläufe in Südwestdeutschland geht. Das macht Sinn, denn hiesige Unternehmen sind durchaus schon heute umweltbewusst. »Wir haben bei uns in Baden-Württemberg gute Produzenten, die verantwortungsvoll handeln«, lobt Nebel, »die haben hochwertige Produkte. Die sind hinterher, dass es ordentlich läuft«. Passenderweise verfügt das Projekt über diverse Produzenten als Partner. Dies alles zusammengerechnet ist dem Bundesministerium für Bildung und Forschung eine Förderung von 1,54 Millionen Euro über eine Laufzeit von drei Jahren wert.
Was lässt sich wie sammeln und verwerten?
»Wir wollen jetzt erst einmal erfassen, was alles übrig bleibt«, erklärt der Leiter des Forschungsschwerpunktes Nachhaltigkeit und Recycling, »und ob es prinzipiell recyclingfähig ist«. Die Wissenschaftler werden ihre Firmenpartner besuchen, gehen in die Produktion, erheben Daten. »Mit 500 Kilogramm Reststoffen brauche ich kein Recycling anzufangen. Also muss man schauen: Wer macht das noch«, beschreibt Nebel die Gedankengänge.
Beantwortet werden sollen Fragen, wie sich Logistikströme entwickeln lassen, ob und mit welchen Technologien was überhaupt einer Wiederverwertung zugeführt werden könnte. Jeder Laie kann sich die Herausforderungen beim Blick auf die Einnäher seiner Kleidung vorstellen. Getragen werden viele Mischgewebe, sortenreine Klamotten sind die Ausnahme.
Was Modebewusste selbst tun können
Bis das Projekt »Ueber-Aus« erste Ergebnisse liefern kann, die sich über die Produktion bis in den Kleiderschrank hinein auswirken, wird es noch etwas dauern. Einstweilen kann jeder modebewusste Mensch durchaus seinen Teil dazu beitragen, dass Klamotten die Umwelt weniger belasten. Wohlgemerkt ohne nackt durchs Leben gehen zu müssen. »Gucken, wo das Zeug herkommt«, rät Nebel. »Mehr regional kaufen, damit stütze ich die Wirtschaft in unserem Staat. Nachhaltiger, als Firmen hier bei uns produzieren, geht's nicht«, betont der Fachmann. Diese Kleidung sei ihren Preis wert. Ganz anders sehe das etwa bei chinesischen Billig-Marktplätzen im Internet aus. »Temu und Shein verkaufen einen Haufen«, beginnt Nebel - um dann einen nicht zitierfähigen Begriff zu verwenden, »da würde ich in meinem Leben nichts bestellen«. (GEA)