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Streuobstwiesen in Reutlingen: Lebensraum für tausende Tierarten

Heupferd, Bussard, Specht, Eidechse, Fledermaus, Raupe, Laus und mehr: Auf einer Streuobstwiese wimmelt es von Leben. Ein lehrreicher Besuch auf einer Wiese in Degerschlacht, die verdeutlicht, warum dieser Lebensraum unbedingt erhalten werden muss.

David Horle und Katrin Reichenecker vom Fachgebiet Natur-, Arten- und Bodenschutz zeigen in Degerschlacht den Lebensraum Streuob
David Horle und Katrin Reichenecker vom Fachgebiet Natur-, Arten- und Bodenschutz zeigen in Degerschlacht den Lebensraum Streuobstwiese auf viele Etagen. Foto: Anja Weiß
David Horle und Katrin Reichenecker vom Fachgebiet Natur-, Arten- und Bodenschutz zeigen in Degerschlacht den Lebensraum Streuobstwiese auf viele Etagen.
Foto: Anja Weiß

REUTLINGEN-DEGERSCHLACHT. 700 Hektar Streuobstwiesen gibt es im Reutlinger Gemeindegebiet. Der Großteil davon befindet sich in sehr schlechtem Zustand. Vielen Wiesenbesitzern fehlt es an der Zeit, um ihre Wiese ordentlich zu pflegen. Dafür sollte man sie mal zwei Mal pro Jahre mähen, die Bäume regelmäßig schneiden und Misteln entfernen. Diese haben sich in den vergangenen Jahren zur Pandemie der Obstbäume entwickelt, erklärt Katrin Reichenecker, Leiterin des Fachgebiets Natur-, Arten- und Bodenschutz der Stadt. »Die Wiesen sind auf den Menschen angewiesen,« bestätigt ihr Kollege David Horle, man kann man sie nicht sich selbst überlassen.

Doch es ist ein Einsatz, der viel Nutzen mit sich bringt. Denn wenn die Wiesen intakt sind, haben sie einiges zu bieten. »Bis zu 5.000 Tier- und Pflanzenarten finden hier ihre Nische«, schwärmt Horle. Der Sommer-Pressetermin führt am Freitagmorgen auf eine Wiese mit 1,8 Hektar in Degerschlacht, an der deutlich wird, wie wertvoll solche Flächen sind. Sie ist ein Beispiel für ein Habitat, also einen Lebensraum, wie er im Buche steht. Der Baumbestand ist gut durchmischt: Es gibt ganz junge Bäume, welche, die in voller Pracht dastehen, einige, die langsam morsch werden und komplett abgestorbene Exemplare. Sie alle sind dringend notwendig, um ein ausgewogenes Ökosystem zu erschaffen, das Vögeln, Insekten und Säugetieren eine Heimat bietet und gleichzeitig dem Menschen als Obstlieferant dient.

Leben auf mehreren Etagen

Horle erklärt am Beispiel eines 150 Jahre alten Birnbaums, dessen Krone noch in vollem Saft steht, dessen Stamm jedoch innen hohl ist, »das Leben auf mehreren Etagen«. Im Wurzelbereich unter der Erde tummeln sich Insekten und Larven. Das erste Obergeschoss, der Stamm ohne Krone, ist ein Ort für kleine Tiere jeglicher Art - Käfer, Hornissen, Bienen oder Spinnen. Besonders attraktiv wird diese Wohnung, wenn sie eine Höhle zu bieten hat. Dann ziehen dort auch größere Tiere wie Fledermäuse, Spechte, Käuze oder Siebenschläfer ein. »Im Dachgeschoss, der Baumkrone, summt und brummt es dann richtig.«

Im Totholz wimmelt es vor Leben: Hier wohnen nicht nur Insekten, sondern oft auch Vögel und Fledermäuse.
Im Totholz wimmelt es vor Leben: Hier wohnen nicht nur Insekten, sondern oft auch Vögel und Fledermäuse. Foto: Anja Weiß
Im Totholz wimmelt es vor Leben: Hier wohnen nicht nur Insekten, sondern oft auch Vögel und Fledermäuse.
Foto: Anja Weiß

Doch nicht nur Bäume, die Früchte tragen, finden sich hier, sondern auch viel Totholz. Die nächste Station auf dem Rundgang ist ein abgestorbener Baum. In dem war der Zimmermann Specht aktiv - mehrere runde Löcher zeugen von seiner Arbeit. Der Vogel baut oft nicht nur eine, sondern mehrere Wohnungen, sodass andere Tiere ebenfalls davon profitieren und dort einziehen können, wenn der Specht in ein neues Quartier gewandert ist. »Darum sollte man die Bäume möglichst länge am Leben halten«, betont Horle, »sie haben viel zu bieten.« Früher wurden sie meist entfernt, wenn sie ein wenig morsch waren, heute weiß man, dass sie in diesem Zustand wertvoll für die Natur sind.

Ähnlich verhält es sich mit den Reisig- und Aststapeln auf der Wiese: Sie beherbergen Eidechsen oder dienen Igeln als Winterquartier. Katrin Reichenecker weist darauf hin, dass man sie auf keinen Fall anzünden sollte, etwa für ein Sonnwendfeuer, da es für tausende Tiere einen qualvollen Feuertod bedeutet.

Typisch für Baden-Württemberg

Streuobstwiesen sind typisch für Baden-Württemberg, »jeder zweite Streuobstbaum steht hier«, erzählt David Horle. Und das Land tut einiges, um sie weiterhin zu erhalten. Seit März 2022 zählen Streuobstwiesen, die größer als 15 Ar sind, zu den gesetzlich geschützten Biotopen - etwas, das die Ökologen sehr begrüßen. Das heißt, die Besitzer sind verpflichtet, sie zu erhalten und zu pflegen. Im Juli hat das Land außerdem die Streuobstwiesenkonzeption 2030 verabschiedet, die von den Städten und Gemeinden nun umgesetzt werden muss. »Dafür brauchen wir eine interkommunale Zusammenarbeit«, ist Katrin Reichenecker überzeugt. Zudem hofft sie auf Fördergelder, um die Besitzer der Wiesen in die Lage zu versetzen, sie zu schützen und zu erhalten.

Das Interesse an diesem Kulturgut hat über viele Jahrzehnte nachgelassen, doch in den letzte Jahren kam es zurück ins Bewusstsein der Bevölkerung. Die junge Generation schätzt wieder vermehrt heimisches Obst und der Verein »Schwäbisches Streuobstparadies« ist sehr aktiv, um zu zeigen, wie wertvoll die Streuobstwiesen sind - für Mensch, Tier und Natur. (GEA)

www.streuobstparadies.de/