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Straßenmusik in Reutlingen: Linke wollen Regeln lockern

Die Fraktion Die Linke/Partei im Reutlinger Gemeinderat beantragt, die Verweildauer von Straßenmusikern auszudehnen und Verbote von Mikros und Mischpulten zu kippen. Was sagen Straßenkünstler dazu? Und wie steht Reutlingen im Vergleich mit anderen Städten da?

Weil das Ordnungsamt kulant und »es einfach schön hier« ist, macht der Tübinger Musiker Dominik Vona besonders gern Straßenmusik
Weil das Ordnungsamt kulant und »es einfach schön hier« ist, macht der Tübinger Musiker Dominik Vona besonders gern Straßenmusik in der Wilhelmstraße in Reutlingen. Foto: Frank Pieth
Weil das Ordnungsamt kulant und »es einfach schön hier« ist, macht der Tübinger Musiker Dominik Vona besonders gern Straßenmusik in der Wilhelmstraße in Reutlingen.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN/REGION. »Um so vieles tut's Dir leid, Du spürst den Schmerz aus der Vergangenheit«, singt Dominik Vona den Flaneuren ebenso zu wie den Vorbeieilenden. »Weißt nicht mehr, was Liebe heißt? Ich kenn’ das, Du bist nicht allein.« Eine Frau strahlt den 32-Jährigen an, eine Mutter mit Kinderwagen schenkt ihm keine Beachtung. Zwei Jugendliche werfen Münzen in Vonas Instrumentenkoffer. »Daa-rara-da-daa-rara«, gurrt der Tübinger da zu rhythmisch geschlagenen Akkorden auf seiner Gitarre. 

Was tun, damit Passanten stehenbleiben und vielleicht sogar etwas spenden? Straßenmusiker wie Dominik Vona lernen in Fußgängerzo
Was tun, damit Passanten stehenbleiben und vielleicht sogar etwas spenden? Straßenmusiker wie Dominik Vona lernen in Fußgängerzonen, wie sie »fesselnde Momente« schaffen. Foto: Frank Pieth
Was tun, damit Passanten stehenbleiben und vielleicht sogar etwas spenden? Straßenmusiker wie Dominik Vona lernen in Fußgängerzonen, wie sie »fesselnde Momente« schaffen.
Foto: Frank Pieth

Es gibt Gruppen, die mit schräg-lautem Gesang Passanten wie Anwohner und Angestellte akustisch eher quälen. Davon hat auch Vona schon gehört. Doch er scheint als Straßenmusiker an jenem sonnigen Nachmittag auch Besucher der umliegenden Gastronomie in der Reutlinger Wilhelmstraße nicht zu stören. Im Gegenteil: Die akustisch dargebotenen selbstgeschriebenen Songs wirken wie der blonde Bart- und Brillenträger unaufdringlich bereichernd, verleihen der Fußgängerzone ein lebensfrohes, südländisches Flair.

Ein Qualitätsmerkmal für urbanes Leben?

Die Fraktion Die Linke/Partei im Reutlinger Gemeinderat findet kostenlose Live-Musik im Stadtzentrum grundsätzlich gut. Als »Zeichen für urbanes Leben, um unseren Innenstädten auch in Zukunft eine zentrale Bedeutung zu geben«. Nicht zuletzt durch Online-Handel ist Einkaufen als zentraler Besuchszweck rückläufig. Faktoren wie »Erlebnis, Gastronomie und Kultur« erhalten mehr Gewicht. Da Straßenkunst für Lebens-, Freizeit- und Aufenthaltsqualität steht, haben der Fraktionsvorsitzende Rüdiger Weckmann, Timo Widmaier und Andreas Schwarz Verbesserungsvorschläge zum Umgang mit Straßenmusikern erarbeitet.

Negative Erfahrungen habe er hauptsächlich in Städten gemacht, wo die Regelungen sehr streng sind , erklärt der einstige Straßen
Negative Erfahrungen habe er hauptsächlich in Städten gemacht, wo die Regelungen sehr streng sind , erklärt der einstige Straßenmusiker Léon Rudolf aus Ulm, der heute als Lemony Rug erfolgreich ist. Foto: Marvin Contessi
Negative Erfahrungen habe er hauptsächlich in Städten gemacht, wo die Regelungen sehr streng sind , erklärt der einstige Straßenmusiker Léon Rudolf aus Ulm, der heute als Lemony Rug erfolgreich ist.
Foto: Marvin Contessi

Der erlaubte Zeitraum, um an einem Ort zu spielen, sei zu kurz. Jedes Weiterziehen bedeute etwa in zwei Stunden, die Musikinstrumente sechsmal auseinander- und wieder zusammenzubauen. Statt Verstärker und Mikros sowie Mischpults zu verbieten, sind sie dafür, die tatsächliche Lautstärke durch eine Dezibelgrenze zu beschränken. Denn diverse Musikstile wie Rap oder elektronische Musik setzten den Einsatz solcher Geräte nun mal voraus.

Das sagen Straßenmusiker dazu

»Wenn Sommer ist und man laut Musik machen darf, ist das schon cool«, findet Dominik Vona, der als 18-Jähriger mit der Straßenmusik begann, schon mit Cro auf der Bühne stand und heute noch die Straße nutzt, »um mich auszuprobieren«. Obwohl er das Reutlinger Ordnungsamt als »relativ kulant« erlebt, wurde auch er schon weggeschickt. »Selbst Bluetooth-Verstärker können unfassbar laut sein«, erklärt er. Dabei hätten am Tübinger Tor damals »die Kinder um mich herum getanzt und alle waren happy und froh«. Grundsätzlich: »Es muss natürlich Regeln geben.« Und gegenseitige Rücksichtnahme sei selbstverständlich.

Auch Léon Rudolf alias »Lemony Rug« hat als Straßenmusiker angefangen. Bevor er bei der Fernsehshow »The Voice of Germany« antrat und die Mannheimer Popakademie absolvierte, war er deutschlandweit unverstärkt mit seiner Gitarre unterwegs - und dadurch dank ÖPNV »sehr flexibel«, erzählt er. »Mit der Erfahrung lernt man, wie wichtig es ist, Momente zu schaffen, in denen ein paar Leute stehenbleiben und für wenige Minuten zuhören.« Sei das Eis gebrochen, werde das zum Selbstläufer. »Das kann aber dauern, weshalb eine längere Spielzeit auf jeden Fall hilfreich ist.« Sein Kollege Philip Bölter fragt: »Was sind schon 20 Minuten? Ankommen, anfangen, warmwerden und schon wieder aufhören.« Das wäre nichts für ihn. »Mit 45 Minuten kriegt man viel eher die Chance, eine Publikums-Traube entstehen zu lassen, und hier ein Erlebnis schaffen zu können.« Deshalb: besser die Musiker länger spielen lassen. »Die Dinge brauchen Zeit, um entstehen zu können«, meint der 37-jährige Gitarrist, Sänger und Songwriter, der am 4. Juli im Max Café in Reutlingen auftritt.

»Negative Erfahrungen habe ich hauptsächlich in Städten gemacht, wo die Regelungen sehr streng und Spielmöglichkeiten sehr begrenzt sind«, berichtet Lemony Rug, der am 1. Juli im Stuttgarter Café Galao und am 3. im Neu-Ulmer Glacis seine neue EP »Uppercut« vorstellt. Dazu gehöre Heidelberg mit »nur wenigen genau gekennzeichneten Orten, wo man nur innerhalb eines sehr kurzen Zeitfensters ein paar Minuten spielen durfte«.

Wie Vona oder Vroni Holzmann aus Edinburgh, die vor zwei Jahren mit ihrem Street-Piano-Boogie-Woogie deutlich länger als 20 Minuten am Lindenbrunnen Passanten unterhielt, berichtet auch Rudolf von Erfahrungen, »wo die Händler und Händlerinnen in der Umgebung mir entweder ein Eis oder Ähnliches rausgebracht haben«. Auf die Nachfrage der Pianistin erklärten sowohl Angestellte der Bäckerei Berger als auch des Soravia, ihre Musik störe überhaupt nicht. So blieb ihr Reutlingen als »wahnsinnig freundlich« in Erinnerung. Straßenmusiker sind nicht zuletzt Multiplikatoren, die das Image einer Kommune prägen und verbreiten.

Vroni Holzmann hat von ihrer Street-Piano-Tour 2023 beste Erinnerungen an die Reutlinger Wilhelmstraße.
Vroni Holzmann hat von ihrer Street-Piano-Tour 2023 beste Erinnerungen an die Reutlinger Wilhelmstraße. Foto: Privat
Vroni Holzmann hat von ihrer Street-Piano-Tour 2023 beste Erinnerungen an die Reutlinger Wilhelmstraße.
Foto: Privat

Wie handhaben andere Städte die Straßenmusik?

Durch die Zunahme von Straßenkunst wird diese vielerorts mehr oder weniger stark reguliert, erläutert das Musikszene-Netzwerk »Backstage Pro« auf seiner Internetseite. Es gebe aber kein Regelwerk, »mit welchem du in ganz Deutschland auf der sicheren Saite spielst!« Auf Amtsdeutsch gelte das Musizieren auf öffentlichen Plätzen als »Sondernutzung«. In einigen Städten wie Stuttgart, Köln, Leipzig oder Erfurt werde dies ohne Anmeldung oder Spielerlaubnis geduldet. Im Negativbereich schießt laut Backstage Pro München den Vogel ab: Dort müsse »man vorab im Rathaus vorspielen. Es werden täglich nur zehn Lizenzen vergeben, vorausgesetzt man trifft den Gusto einzelner Personen«. So solle die Qualität der Musik im städtischen Raum gesteigert werden.

Zurzeit durchforstet auch Holzmann vor jeder Station ihrer »European Street Piano Tour« wieder kommunale Websites. In Luxembourg stieß sie jüngst auf Widerstände: Dort hätte sie schon 30 Tage zuvor einen Antrag stellen müssen. »Da sie einen Wohnausweis verlangten, und meine Unterkunft nicht galt, musste ich zudem eine Nacht auf einem Zeltplatz buchen.« Großbritannien und Deutschland heißen Straßenmusiker besser willkommen als Frankreich, Italien und die Schweiz, zeigt ihre Erfahrung. Doch auch hier ist es laut Léon Rudolf »meistens eine ziemliche Herausforderung, sich erstmal in das ,Kleingedruckte' einzulesen, wenn man in einer neuen Stadt spielen will«.

Für Musiker ist ein Auftritt in der Innenstadt eine Möglichkeit rauszukommen, neues Song-Material zu erproben, aber auch, um etw
Für Musiker ist ein Auftritt in der Innenstadt eine Möglichkeit rauszukommen, neues Song-Material zu erproben, aber auch, um etwas Geld einzunehmen. Foto: Frank Pieth
Für Musiker ist ein Auftritt in der Innenstadt eine Möglichkeit rauszukommen, neues Song-Material zu erproben, aber auch, um etwas Geld einzunehmen.
Foto: Frank Pieth

Auch wenn Ulm für »die Ausübung von Straßenkunst« vorab eine »Sondernutzungserlaubnis« vom Ordnungsamt verlangt, genießt er »Straßenmusikmachen« in seiner Heimatstadt. »Weil ich mich dort auskenne und schöne Orte gefunden habe.« Zudem seien die Regelungen ziemlich musikerfreundlich. In Hamburg, wo er heute lebt, sei»das Pflaster um einiges umkämpfter«. Besuche er ein- bis zweimal im Jahr die Familie im Süden, stelle er sich auf seinen »alten Platz« - und finde es »toll zu sehen, dass sich manche Menschen immer noch an mich erinnern«. 

Der Tübinger Dominik Vona spürt in Reutlingen den Willen, »dass kulturell und vom Stadtmarketing her was passiert«.
Der Tübinger Dominik Vona spürt in Reutlingen den Willen, »dass kulturell und vom Stadtmarketing her was passiert«. Foto: Frank Pieth
Der Tübinger Dominik Vona spürt in Reutlingen den Willen, »dass kulturell und vom Stadtmarketing her was passiert«.
Foto: Frank Pieth

Tübingen ist »ein bisschen strikter« als Reutlingen, meint Dominik Vona, der am 28. August auch open air auf der Burg Hohenneuffen zu erleben ist. Via Broschüre erklärt die Stadt in sechs Sprachen, an welchen neun Orten werktags zwischen 11 und 20.30 Uhr Straßenmusiker je eine halbe Stunde spielen dürfen. Gruppen sind nur bis fünf Mitglieder erlaubt und laute Instrumente ebenso wie Verstärker tabu. Der 32-Jährige macht keinen Hehl daraus, dass er die Stücke für sein neues Album lieber vor der Reutlinger Marienkirche als in seiner Heimatstadt erprobt. Nicht nur, weil er da erfahrungsgemäß nach einer Stunde zwischen sechs und 300 Euro in seinem Gitarrenkoffer vorfindet. Sondern »weil's hier schön ist«. Reutlingen sei in Sachen Straßenmusik fortschrittlicher. Da spüre er »den Willen, dass etwas passiert«. (GEA)

Antrag auf Ausweitung der Auftrittszeiten

Am 4. Juni hat die Reutlinger Gemeinderatsfraktion Die Linke/Partei einen Antrag an den Oberbürgermeister gestellt, zur Förderung der Straßenmusik in der Stadt die Regeln zu optimieren. So sollen Künstlerinnen und Künstler, die in Reutlingen Musik auf der Straße darbieten, ihren Standort statt alle 20 nur noch alle 45 Minuten wechseln müssen. Zudem sollen künftig ein akkubetriebener Verstärker und elektronische Wiedergabegeräte grundsätzlich erlaubt sein - sofern »diese nicht aufgrund von Größe und Gewicht andere Fußgänger stören«. Für elektronische Wiedergabegeräte möge die Verwaltung einen dB-Grenzwert festlegen, die sich an der Lautstärke akustischer Instrumente orientiert. In diesem Sommer treten diese Neuerungen aber nicht mehr in Kraft, denn nach Auskunft der Stadtverwaltung wird der Antrag erst im September auf der Tagesordnung des Gemeinderats stehen. (GEA)