REUTLINGEN/REGION. Am frühen Nachmittag macht die Reutlinger Oststadt einen schläfrigen Eindruck. Hier und da bewegen sich Menschen in - für einen Sonntag - ungewohnter Zahl auf Schulen zu. Und tun dort das, was sonst eher in Supermärkten oder vor Kinokassen zu beobachten ist: geduldig Schlange stehen. Im Vergleich zum Vortag, wo in der Stadt mit dem CSD Musik geboten war und in der Fußgängerzone noch eifrig Wahlkampf betrieben wurde, scheint die Reutlinger Innenstadt gegen Abend zwar belebt, aber ruhig. Und im Vergleich zu den Land- und Bundestagswahlen mitten in der Corona-Pandemie 2021 schien der Wahlsonntag am 9. Juni mit Europa- und Kommunalwahlen insgesamt unkompliziert abzulaufen.
Unter den 31 übers Innenstadtgebiet verteilten Wahlbezirken liegt das Wahllokal mit der Nummer 011-04 im Eninger Weg 4 relativ weit draußen. Dafür ist der Kindergarten rollstuhlgerecht zugänglich. Claudia Weegen nutzt die verkehrsberuhigte Fahrradstraße für einen Sonntagsspaziergang mit ihrem Mann und Schwiegervater. Der 89-Jährige geht langsam am Rollator, seine Schwiegertochter hält den großen weißen Umschlag mit den Wahlunterlagen in der Hand. Da der Senior erst vor wenigen Monaten hergezogen ist und nun nur 50 Meter entfernt wohnt, war klar, dass alle drei zusammen zum Wahllokal gehen. Sie fand die Auswahl bei den Kommunalwahlen diesmal kompliziert. »Bei der Europawahl war ich mir sicherer.« Ältere Menschen, die allein sind, hätten damit vielleicht Schwierigkeiten.
Mit ihren Eltern und dem Hund kommt Lana Walther zum Wahllokal am Fuß des Wöhrwoldwegs. Während der Vater reingeht, warten die Mutter und die Erstwählerin draußen. Für die 16-Jährige war klar, dass sie ihr Wahlrecht wahrnimmt. Allzu schwierig fand sie es nicht: »Ich hab mir einfach die Namen und Berufe angeschaut« - und gekuckt, was zu ihr passt. »Ging eigentlich«, sagt sie.

Kurz nach 14 Uhr tröpfeln die Wähler so regelmäßig herein, dass es in dem Raum mit zwei Wahlkabinen und vier Wahlhelfern immer wieder zu kurzen Wartezeiten kommt. Einmal wird's aufregend: In einer der Kabinen hat jemand den Personalausweis liegenlassen. Der älteste Wahlhelfer sprintet dem Wähler hinterher, der eben den Kindergarten verlassen hat.
»Schön, dass schon einiges los ist«, findet Lanas Mutter Marijana Walther. Bei den letzten Bundestagswahlen hatte sich schon morgens eine lange Schlange bis auf die Straße hinaus gebildet, erinnert sich die 40-Jährige. »Ich glaube, der Andrang hängt vom Wetter ab.« Auch für sie versteht sich von selbst: »Wenn man schon darf, sollte man seine Stimme auch ausnutzen.«
Endspurt im List-Gymnasium und AEG
Um 17 Uhr ist im Wahllokal im Friedrich-List-Gymnasium »ganz gut was los«: Beate Meinck, die Leiterin der Stadtbibliothek, die mit acht Leuten in zwei Schichten den Wählern bei der Abgabe ihrer Europawahlzettel und orangenen Kommunalwahlumschläge hilft, ist noch nicht mal dazugekommen, die Wahlbeteiligung einzuschätzen. Geschweige denn, zur Toilette zu gehen. »Wir sind seit 13 Uhr alle gut beschäftigt«, blickt sie um 17 Uhr zurück. Bis 14 Uhr war die Warteschlange am längsten. Nach der Schließung der Wahllokale geht es weiter: Dann zählen die Helfer beider Schichten gemeinsam die Europawahl aus.
Besondere Vorfälle? Außer »Ups, ich hab meine Wahlbenachrichtigung vergessen« oder »ach, ich bin im falschen Wahllokal« nichts, berichtet Meinck. Just da bescheinigt ihre Kollegin einem Radler im hautengen Ganzkörperdress: »Bei uns sind Sie nicht richtig.« Der blickt leicht panisch unter seinem Helm hervor, murmelt von einem kürzlichen Umzug - und huscht flugs in Richtung des zuständigen Wahlbezirks davon. Eine Herausforderung bestand aus Sicht von Beate Meinck an jenem Tag vor allem in der großen Auswahl auf den Gemeinde- und Kreisratslisten: »Wer da nicht daheim schon draufgeschaut hat, war in der Kabine lang beschäftigt.«
Promis und Kinder
An Promis waren der SPD-Bundestagsabgeordnete Nils Schmid und die Grünen-Landtagsabgeordnete Cindy Holmberg da, gleich morgens zudem der Reutlinger Verwaltungsbürgermeister Robert Hahn.
In der letzten halben Stunde vor Schließung der Wahllokale ist auch Dorothee Tröster im Albert-Einstein-Gymnasium äußerst gefragt. Die städtische Angestellte ist mit drei Kolleginnen für Wahlbezirk 13-02 zuständig. Alles läuft friedlich und geordnet ab, doch 10 bis 15 Menschen finden sich schnell in der Schlange. Zumal immer wieder junge Familien Mitglieder deutlich unter dem Erstwähleralter mitbringen. »Langsam ranführen«, erklärt der Vater eines kleinen blonden Mädchens augenzwinkernd. »Du bist unsre Briefumschlagseinwerferin«, flüstert ihr die Mama zu. Die Kleine strahlt.
»Wenn ich nicht wähle, darf ich mich auch nicht beschweren«
Das tut auch der 20-jährige Lion Scheuermann, als er nach mehrmaligen voreiligen Versuchen endlich seine Zettel in die Boxen steckt. »Jetzt darf ich!«, triumphiert der Jungwähler. Dass er im Wahllokal sagte, er sei total aufgeregt, war aber Spaß, gesteht er vor dem Schulgebäude, wo er mehrere Kumpels, die ebenfalls grade wählen waren, begrüßt. Wählen zu gehen sei wichtig, »damit Deutschland wieder schön wird, gut, besser«. Klar ist auch, dass die Clique nach 18 Uhr gemeinsam die Hochrechnungen verfolgt.
Auch in Pfullingen kommen die Wähler meist in Kleingruppen, so manches Mal im Familienverbund. Besonders, wenn es die erste Wahl ist, schließen sich die jungen Menschen ihren Eltern an und spazieren gemeinsam zur Stimmabgabe. Im Kindergarten Ahlsteige, in dem drei Wahllokale untergebracht sind, macht Stella Milotzki zum ersten Mal von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Für sie war klar, dass sie wählen geht, vor allem, um einen Wahlsieg der AfD zu verhindern. Ein Motiv, das ihre Mutter Petra mit ihr teilt. Die Europa- und die Kommunalwahl finden beide gleich wichtig, »auch wenn man natürlich das Gefühl hat, dass die eigene Stimme mit so viel Wahlberechtigten wie es bei der Europawahl gibt, nicht wirklich ins Gewicht fällt«.
Die Europawahl schätzt der Pfullinger Markus Breitling als zunehmend wichtig ein, da »von der EU vieles bestimmt und beschlossen wird, was für uns entscheidend ist«. Enrico Gärtner stimmt zu: »Viele Weichen werden in Europa gestellt«, doch auch auf kommunaler Ebene werden Dinge beschlossen, die direkten Einfluss auf die Menschen haben. »Wenn ich nicht wählen gehe, darf ich mich auch nicht über die Politik beschweren «, meint der Pfullinger.
Ein stetes Kommen und Gehen
Die Wahlhelfer in Pfullingen sind zufrieden mit der Resonanz an diesem Sonntag. »Es ist ein stetes Kommen und Gehen«, sagt Markus Hehn, Pressesprecher der Stadt, der als Wahlhelfer in der Wilhelm-Hauff-Realschule eingeteilt ist. »Es läuft erstaunlich gut dafür, dass es drei Wahlen sind.« Fast alle Wähler haben die komplizierten Kommunalwahlen zu Hause ausgefüllt und müssen sie nur noch einwerfen, berichtet Hehn. Erstaunlich sei, dass in diesem Jahr viele ihre Wahlbenachrichtigung nicht mitgebracht haben – allerdings genügt der Ausweis, um seine Kreuzchen machen zu dürfen. Besondere Vorkommnisse gebe es keine. »Alles verläuft absolut ruhig«, sagen die Wahlhelfer der Echazstadt.
Lange Schlangen bilden sich des öfteren in der Gomaringer Kulturhalle, in der gleich drei Wahllokale untergebracht sind. »Das ist einfach phänomenal«, freut sich Wahlhelfer Friedhelm Haas, »ich bin positiv überrascht, wie viel hier los ist«. Und das, obwohl die Briefwahlquote in der Gemeinde in diesem Jahr erneut nach oben gegangen ist, wie eine Mitarbeiterin im Rathaus erzählt. Schon in den ersten Wochen nach der Zustellung der Wahlbenachrichtigung habe das Wahlteam 1.300 Briefwahlanträge zu bearbeiten gehabt. Doch auch in den Wahllokalen ist ordentlich was los: Da wird es für die Helfer manchmal sogar schwierig, eine kleine Pause einzulegen - Brezel und Mineralwasser werden von einer Kollegin direkt an den Tisch geliefert, an dem Friedhelm Haas die Umschläge ausgibt.
Ein junges Paar stellt sich gelassen in die Reihe, welche Wahl nun bedeutender ist, vermögen sie nicht zu beurteilen. »Das sind totale Gegensätze«, meint Sascha Sautter, seine Ehefrau Marie stimmt zu. Einerseits die EU, die mit ihren Gesetzen vieles festlegt, auf der anderen Seite die Kommunalpolitik, die für die Infrastruktur vor Ort zuständig ist – etwa für Kitas, Kindergärten oder Schulen. Für das Paar, das demnächst ein Kind erwartet, durchaus ein Faktor, genau zu überlegen, wem man seine Stimme gibt.
Heike Hau ist mit Tochter und Ehemann im Wahllokal erschienen. »Es war klar, dass meine Tochter wählen geht, sobald sie es das erste Mal darf«, erklärt sie. Wählen ist Pflicht, ein Recht, das man auf jeden Fall wahrzunehmen hat - da ist sich die Familie einig. Die aktuelle Tagespolitik verfolge sie durchaus, wenn auch nicht bis in die Tiefe. »Da kennt sich mein Mann besser aus.« (GEA)