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Aktuell Auskreisung

Stadt und Kreis Reutlingen vom Land enttäuscht

Das Land lehnte die Stadtkreisgründung Reutlingens ab. Es folgten Gespräche über Zuständigkeiten. Die waren konstruktiv. Dennoch bleibt Enttäuschung.

REUTLINGEN. Im März 2013 war klar: Reutlingen will kreisfreie Stadt werden - wie acht andere baden-württembergische Großstädte. Jahre voll leidenschaftlicher Debatten folgten, bis Juristen 2020 die Ablehnung des Antrags durchs Land für rechtens befanden. Die vom Landtag 2018 geforderten Gespräche zwischen der Stadt und dem Landkreis Reutlingen liefen weiter. In einem moderierten Gesprächsprozess sollten sie Möglichkeiten der Verbesserung der kommunalen Zusammenarbeit ausloten. Und gemeinsam prüfen, ob es sinnvoll und gerecht ist, Aufgabenfelder vom Kreis an die Stadt zu übertragen.

Das haben sie getan: Die Gespräche wurden konstruktiv und in guter Atmosphäre geführt, wie sowohl der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck als auch Landrat Ulrich Fiedler und Staatssekretär a. D. Hubert Wicker betonen. Wicker hatte die insgesamt sieben Gespräche seit 2023 »als objektiver Dritter«, wie er es ausdrückt, moderiert. Als ehemaligem Regierungspräsidenten von Tübingen sind ihm sowohl die Strukturen der Stadt als auch die des Landkreises Reutlingen vertraut. In ihrer letzten Sitzung haben beide Seiten den Gesprächsprozess jedoch beendet. Darüber wurde nach den Gemeinde- und Kreistagsfraktionen auch der Landtag sowie am Donnerstagnachmittag die Öffentlichkeit informiert. Was zunächst einvernehmlich klang, hat jedoch einen Haken.

Keine Übertragung der Kompetenzen

Denn die Übertragung von Kompetenzen, auf die sich Stadt und Kreis geeinigt hatten, etwa bezüglich Wohnbauförderung und Flüchtlingsaufnahmegesetz, haben die zuständigen Ministerien »bedauerlicherweise abschlägig beschieden«, wie Moderator Wicker erklärt. Voraussetzung dafür wären jeweils Gesetzesänderungen gewesen, die diese nicht auf den Weg bringen wollen, ergänzt Landrat Fiedler. »Manches war seitens des Landkreises eben nicht verhandelbar«, schildert OB Keck. Doch dann hätten die Ministerien »das wenige, worauf man sich einigen konnte, noch vom Tisch gewischt«.

Was bedeutet »Auskreisung«?

Kreisfreie Städte oder Stadtkreise gehören keinem Landkreis an und regeln nicht nur die ureigenen kommunalen Aufgaben, sondern auch jene, die normalerweise den Kreisbehörden obliegen. Den Nachteilen - mehr Aufgaben, höhere Kosten - stehen Vorteile - mehr Einfluss, Wegfall der Kreisumlage - gegenüber, die gegeneinander abzuwägen sind. Der Zuschnitt des Landkreises Reutlingen beruht auf der am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen Kreisreform. Die Erklärung der Stadt Reutlingen zum Stadtkreis wäre ihrer Ansicht nach »die konsequente Fortsetzung der Verwaltungsstrukturreform«. Sie sah in der Stadtkreisgründung »die umfassende Chance, Verwaltungsstrukturen schlanker, effektiver und effizienter – schlicht bürgernäher zu organisieren«. Zumal die Stadt seit 1988 mehr als 100.000 Einwohner hat - bei der Kreisreform 1973 lag Reutlingen mit knapp 96.000 Einwohnern noch unter dieser Grenze. (GEA)

So heißt es in der gemeinsamen Erklärung nun: »Zum Bedauern der Stadt Reutlingen mussten wir anhand der Rückmeldungen der Ministerien feststellen, dass es ohne den Rückhalt des Landes zu keinen substanziellen Änderungen kommen wird, für die wir uns in einen mehrjährigen Gesprächsprozess begeben haben.« Aber auch: »Die Stadt Reutlingen hält sich die Option einer erneuten Antragstellung auf Gründung eines Stadtkreises offen.«

Mit Dezernenten und Bürgermeistern wurde in den vergangenen zwei Jahren »viel Hirnschmalz, Nerven und Zeit investiert«, sagt Keck. Nicht umsonst, denn »die Gespräche haben uns wesentlich weiter zueinander gebracht«, wie Fiedler konstatiert. Das wollen Stadt und Kreis weiterführen. Und die Zusammenarbeit etwa bezüglich der ÖPNV-Finanzierung, Jugendhilfe, Ganztagsförderung sowie offene Kinder- und Jugendarbeit intensivieren. Doch seitens der Stadt, die »etwas zu verlieren hatte«, ist die Enttäuschung Keck zufolge groß. Einmal mehr fühlten sich die Reutlinger vom Land schlecht behandelt. »Nun liegt der Ball im Spielfeld des Landtags«, sagt er. Der müsse entscheiden, »ob er sich die Behandlung der Ministerien gefallen lässt« - im Sinne von »wer hat in Stuttgart die Hosen an?«

Lange Vorgeschichte

Die Reutlinger Stadtkreisfrage ist alt: Schon unter den OBs Manfred Oechsle und Stefan Schultes hatte es städtische Überlegungen gegeben, aus dem Landkreis auszuscheren. Unter Schultes gab es 1999 eine Arbeitsgruppe zur »Auskreisung«. Die Zeit war für Rathauschefin Barbara Bosch 2013 reif: Da begann die Debatte darum, ob die Stadt Reutlingen sich vom Landkreis löst, offiziell. Der Gemeinderat war 2015 mit einer Dreiviertelmehrheit dafür. Am 21. Mai stellte die Stadt deshalb ans baden-württembergische Innenministerium den Antrag »auf Erklärung zu Stadtkreis«.

Ein gewichtiges Pro-Argument war, dass damit die Kreisumlage wegfiele: damals kostete sie die Stadt rund 40 Millionen Euro jährlich - 2025 sind es 78 Millionen. Dass der Kreis entsprechend der Landkreisordnung die kreisangehörigen Gemeinden in der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt und zum gerechten Ausgleich ihrer Lasten beiträgt, sah die Stadt nur »unzureichend erfüllt«. Auf der anderen Seite stellte sich die Frage, ob der Kreis weiter bestehen könnte, sollte die Großstadt als mit Abstand größte Einzahler in den Kreishaushalt aus dem Landkreis aussteigen.

Gespräch mit Abgeordneten abgelehnt

Am 19. Dezember 2018 lehnte der Landtag die Stadtkreisgründung ab: weil »keine überwiegenden Gründe des öffentlichen Wohls« dafür sprächen. Vom Tisch war das Thema damit nicht. Durch den Gesprächsprozess und da die Stadt mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Land noch ihre juristischen Möglichkeiten ausschöpfte.

MdL Manuel Hailfinger (CDU) »kann nicht nachvollziehen«, weshalb der Prozess nun derart enttäuscht beendet wurde. Seinen Wunsch, »vor der jetzigen Beendigung des Gesprächsprozesses zwischen Stadt und Kreis in Gespräche mit den Abgeordneten des Landtags einzutreten«, habe die Stadt Reutlingen am Mittwoch abgelehnt, teilt er mit. (GEA)