REUTLINGEN. Diese Schulstunde ist definitiv eine Liebeserklärung: ans Schwäbische - und nebenbei auch an alle anderen Dialekte, die weltweit gesprochen werden. Denn Mundart ist - wiewohl allzu oft unterschätzt - wertvoll. Sie verbindet, schafft Identität, folgt ihren jeweils eigenen grammatischen Regeln - und kann richtig Spaß machen. Jedenfalls dann, wenn Johannes Kretschmann am Lehrerpult steht und einer zehnten Klasse klarmacht, dass regional begrenzte Idiome Juwelen sind. Allerdings solche, die matt zu werden drohen. Weshalb sie dringend wieder zum Glänzen gebracht werden sollten.
»I ben d'r Johannes«, stellt sich der Sohn des amtierenden baden-württembergischen Ministerpräsidenten vor. Man dürfe ihn, lässt er wissen, gerne duzen. Dass er das »bollastark« fände, sagt er zwar nicht. Dessen ungeachtet wird binnen der kommenden anderthalb Stunden von »Bolla« noch zu hören sein. Dann, wenn sich längst herausgestellt hat, dass die hier und heute versammelten Friedrich-List-Gymnasiasten den etwas anderen Unterricht zwar »mega« finden, Kretschmann jedoch nicht zu duzen wagen.
A bissla Reschpekt schadet ned
Was letztlich au räächd isch: a bissla Reschpekt schadet schließlich ned. Zumal »d'r Johannes« ein kluger Kopf ist. Hat der 46-Jährige in jüngeren Jahren doch Linguistik, Religionswissenschaften und Rumänisch studiert und seinen Examensschwerpunkt auf den schwäbischen Dialekt gelegt.
Damit freilich nicht genug, hat Kretschmann außerdem eine humorige Ader, die er als Kabarettist auslebt. Und: Er hat ein Händle für kurzweiligen Unterricht, den er im Rahmen des Programms »Mundart in der Schule« anbietet, mit dem Ziel junge Leute zom Schwäbisch-Schwätza zu motivieren.
Mundart wurde über Jahrzehnte vernachlässigt
Heidanei! Was ist eigentlich los, dass neuerdings Mundart-Missionare in Bildungsstätten auftauchen müssen, um den schwäbischen Sprachschatz zu bewahren? Antwort: Mundart wurde über Jahrzehnte vernachlässigt. Mehr noch: Sie war für die Dauer von mindestens zweieinhalb Dekaden nachgerade verpönt.
Wer im Schwobaländla seiner Gosch' freien Lauf ließ, kam oft in den Verdacht, des Hoch- beziehungsweise Schriftdeutschen - Kretschmann spricht vom Standarddeutsch - nicht mächtig zu sein. In vielen bildungsbürgerlichen Familien wurden Kinder sogar dazu angehalten, tunlichst nicht zu schwäbeln. Und in Schulen war man um ein möglichst ungefärbtes Deutsch bemüht.
Das Programm »Mundart in der Schule«
Das Projekt "Mundart in der Schule" soll die in Baden-Württemberg verwurzelten Dialekte Alemanisch, Schwäbisch und Fränkisch auf amüsante Weise in die Klassenzimmer bringen und für Jugendliche attraktiver machen. Initiiert wird es von einem Arbeitskreis der sich 2003 aus Mitgliedern Mundart-Initiativen "Muettersproch-Gsellschaft", "Schwäbische mund.art" und "Förderverein Schwäbischer Dialekt" gebildet hat. Zur Förderung der baden-württembergischen Mundarten im Schulunterricht lassen sich seither Dialekt-Botschafter aus Literatur, Musik und Kabarett in Bildungsstätten aller Arten einladen, um dort jeweils eine Doppelstunde zu gestalten. (GEA)
Schwäbisch? Nein danke. Denn Schwäbisch ist - so ein gängiges Vorurteil - bloß was für schlichte Gemüter … Oder eben auch nicht, wie Johannes Kretschmann beweist, der in seiner Funktion als Mundart-Botschafter durch baden-württembergische Klassenzimmer tourt.
Ans Reutlinger Listgymnasium wurde er von Deutschlehrerin Antje Lang eingeladen und staunt gleich zu Beginn seiner Schwäbisch-Doppelstunde Bauklötze. Von den vierundzwanzig teilnehmenden Zehntklässlern outen sich nämlich nur vier Schüler als Mundartsprecher, und lediglich zwei von ihnen geben an, des Schwäbischen mächtig zu sein.
Kaum Schwäbischschwätzer in der Klasse
Sapperlot! Das erscheint dünn und wird von Johannes Kretschmann dahin gehend interpretiert, dass Reutlingen eine Großstadt ist. »Daran merkt man’s.« Immerhin: Bei nochmaligem Nachbohren zeigt sich, dass ihm zwar kaum Schwäbischschwätzer gegenübersitzen, wohl aber Jugendliche, die andere Dialekte beherrschen - Oberbayerisch zum Beispiel, Irakisch-Arabisch sowie Ege und Karadeniz, die in manchen Regionen der Türkei gesprochen werden.
Ob die Listgymnasiasten Mundart im Alltag gut finden? Jawoll, sie tun’s. Auf einer Notenskala von eins bis sechs vergeben fünfzehn Teenager die Zwei, einer sogar die Eins und damit das Prädikat »bollagut«. Womit der Unterricht wieder beim »Bolla« angelangt wäre, der zum so genannten affektiven Wortschatz überleitet.
Schwäbischer Schimpfkalender: Von Allmachdsbachl bis Mordsdaggl
Gemeint sind Kraftausdrücke, die kein Geringerer als Mundartdichter Thaddäus Troll gesammelt und in Gestalt eines schwäbischen Schimpfkalenders veröffentlicht hat – von Allmachdsbachl (Trottel) und Bollahengscht (Weingärtner) bis hin zu Mordsdaggl (»ein Simpel der durch Simpelhaftigkeit beeindruckt«) und Seggl (Idiot).
Das macht Laune und Lust auf mehr. Gebannt und hochkonzentriert hängen die Schüler Johannes Kretschmann an den Lippen, während er einen Ausflug ins Hebräische und Jiddische unternimmt, g'schwind das Irisch-Gälische streift und ein bisschen beim Schwyzerdütsch, das bei den Eidgenossen »ein hohes Prestige hat«, verweilt.
All das übrigens in lebhaftem Dialog mit der Schülerschaft, für die der 46-Jährige voll des Lobes ist. »In dieser Klasse herrscht eine auffallend hohe Aufmerksamkeit«, freut er sich, um an anderer Stelle zu betonen: »Die Klasse ist richtig gut. Da gibt es einige mit außergewöhnlichem Wissen.«
Applaus für selbstverfasste »Goischd'r-G'schicht«
Kurze Pause mit Stoßlüften und schon geht’s munter weiter, wird’s richtiggehend gruselig. Denn jetzt trägt Kretschmann der 10a eine selbstverfasste »Goischd'r-G'schicht« vor, für die er ordentlich Applaus einheimst, ehe die Gymnasiasten gefordert sind. Die Aufgabe: Sie sollen in Kleingruppenarbeit Mundart-Gedichte zum Thema »Liebe im Dorf« schreiben. Allerdings nicht irgendwie, sondern im Stil japanischer Haikus und für einen klasseninternen Poeten-Wettstreit.
Eine nette Idee? Naja. Begeisterung sieht anders aus. Jedoch: Drückeberger haben an diesem Vormittag keine Chance. Und das ist gut so. Denn die zu Papier gebrachten Dreizeiler lesen sich gar nicht mal übel. Auch, wenn sie von »bollagut« noch weit entfernt sind. (GEA)