REUTLINGEN. Die Reutlinger ackern weiter. Im Frühjahr hatte das Tübinger Regierungspräsidium den städtischen Haushalt erstmals nach drei Jahren wieder ohne Auflagen genehmigt. Mit 66 Millionen Euro Gewerbesteuer rechnet die Stadt nun bis Jahresende: rund drei Millionen mehr als geplant. »Das ist erfreulich«, befand Kämmerer Frank Pilz in der jüngsten Sitzung des zuständigen Ausschusses.
Nach aktuellem Kassenstand wird auf Jahresende rechnerisch ein ganz leicht negatives ordentliches Ergebnis prognostiziert. Gut 6 Millionen plus waren eigentlich angesetzt. Dennoch sind die wesentlichen Zahlen laut Pilz kompatibel mit dem Haushaltserlass, die ordentlichen Tilgungen können bezahlt werden.
Es gelte weiter, die Eigenfinanzkraft zu stärken und zu konsolidieren, so der Kämmerer. Ausdrücklich habe das Regierungspräsidium die »vielen Konsolidierungsmaßnahmen gelobt«. Dabei rechnet sich das Sparen beim Rathauspersonal nicht immer - wenn sich etwa die Entwicklung von Gewerbegebieten verzögert, weil qualifiziertes Personal im Rathaus dafür fehle.
Und in Sachen Gewerbesteuer könnte schon bald die Delle kommen: »Die Aufträge sind abgearbeitet«, so Pilz. Ein Teil des Geldsegens aus dieser wichtigen Einnahmequelle beruht wohl auch auf der Zurückhaltung der Firmen bei den Investitionen.
Weniger Zuweisungen drohen
Mit Unheil rechnet die Stadt auch in Bezug auf die Zuweisungen: Aktuell werde das Wirtschaftswachstum deutlich nach unten korrigiert, was möglicherweise Auswirkungen auf die Landes -Zuweisungen nach der Herbst-Steuerschätzung Ende Oktober haben werde.
Eine habhafte Größe für einen beunruhigenden Trend ist der Schuldenstand der Stadt - er klettert in Reutlingen seit 2018 fast ohne Unterlass. Ende September liegt er nun bei über 131 Millionen (mit den Eigenbetrieben : über 332 Millionen Euro). Aber in Reutlingen sehe es derzeit vergleichsweise »gut« aus, urteilte Pilz und wandte den Blick zum Nachbarn. »Tübingen rutscht gerade richtig ins Defizit.«
»Die Entwicklung der kommunalen Finanzen macht mir insgesamt Sorge«, so Finanzbürgermeister Roland Wintzen. Viele Kommunen gerieten nun in die gleiche Lage wie die Reutlinger in den Jahren 2019/2020. Das Grundproblem: Es fehle an einer auskömmlichen Finanzierung durch Bund und Land für die Bestandserhaltung und Zukunftsausgaben wie die Digitalisierung gleichermaßen.
Was kosten mehr Bürger?
Vor Hintergrund des Finanzberichts passte die Anfrage von WiR-Stadtrat Professor Dr. Jürgen Straub. Er schlug im Kern vor, Stadtentwicklung und -erweiterung stärker unter dem Kosten/Nutzen-Aspekt für den kommunalen Haushalt zu betrachten und dabei durchaus auch die Expertise externer Gutachter einzuholen.
Seine konkrete Anfrage an die Stadt: Was kosten hundert oder tausend neue Bürger mehr? Welche Folgekosten sind aus einem neuen Wohn- oder Gewerbegebiet zu erwarten, welche Steuern können generiert werden. Ist die Realisierung größerer Baugebiete wie etwa Orschel-Hagen Süd »notwendig und sinnvoll«? Das gelte es, noch eingehender als bisher zu prüfen. »Bevölkerungs-Wachstum um jeden Preis können wir uns nicht leisten.« Vorm Hintergrund der demografischen Entwicklung gewinne das Thema an Brisanz.

»Es gibt keinen eindeutig-unmittelbaren Zusammenhang zwischen Einwohnerwachstum und zusätzlichen Einnahmen oder Ausgaben«, so die Antwort des Finanzbürgermeisters. Zu unterschiedlich die Parameter: Wächst die Stadt im Wachstum im Bestand oder auf neuem Terrain? Wie sind die Eigentumsverhältnisse? Kann die Stadt Kosten refinanzieren? Angesicht einer komplexen Gemengelage machten Formeln für eine allgemeine Berechnung keinen Sinn. Bei Infrastruktur ohne direkten Bezug zu einem Bau- oder Wohngebiet wie Bücherei, Bad oder Theater könne noch viel weniger eine kausale Verknüpfung zum Einwohnerwachstum hergestellt werden.
Zu komplex für Formeln?
Bei den allgemeinen Finanzeinnahmen der Kommune spiele die Bevölkerungszahl teilweise zwar eine Rolle. Weil aber andere relevante Rechengrößen einfließen, gebe es aber etwa bei den zentral wichtigen Schlüsselzuweisungen des Landes keine Korrelation zwischen der Bevölkerungsentwicklung in der Stadt und der Entwicklung der Zuweisungssumme.
Gleichwohl ist die Stadt nicht planlos. Für die einzelnen Großprojekte wie etwa die Bebauung »Schieferbuckel« werden unter anderem auch Wirtschaftlichkeitsberechnungen angestellt. »Wir treiben Riesenaufwand für die einzelnen Baugebiete.« Zu übergreifenden Themen wie Kindergarten, Schulentwicklung oder Verkehr werden ebenfalls Gutachten erstellt.
Komponenten abwägen und dann entscheiden, das sei doch »der Charme der kommunalpolitischen Arbeit«, befand Wintzen. In die Entscheidungsfindung flössen eben nicht nur rein »quantitative Notwendigkeit«, sondern politisch-gesellschaftliche Anforderungen an qualitative Standards ein.
Zu simpel für die Realität?
Bei den Ratskollegen stieß der WiR-Antrag ebenfalls nicht auf Gegenliebe. »Jürgen Straub simplifiziert komplexe Sachverhalte. Er versucht, Kommunalpolitik in einfache Dreisätze zu gießen«, resümierte Grünen-Stadtrat Dr. Karsten Amann stellvertretend den Tenor im Saal. Positiven Widerhall fand der Antrag nur bei den Linken/Die Partei. »Wir begrüßen den Vorstoß«, sagte Rüdiger Weckmann. Er verspricht sich mehr Transparenz bei der Planung und Entscheidungshilfen für eine ökologische Politik.
Er habe nicht von einer einfachen Formel gesprochen: Straub verwahrte sich gegen die Kritik und führte aus, dass sich sein Vorstoß auf die Handreichung »Planen in Zeiten leerer Kassen« des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministeriums stütze. »Da sitzen nicht nur Dummköpfe drin.« (GEA)